Die Legenden der Vaeter
Suche nach seinem Vater, sondern auch die Angst vor Mariannes Schlägen der Anlass dafür war, hatte er mir zunächst verschwiegen. Stattdessen hatte er mit dem Teil der Geschichte begonnen, der mich immer am meisten gefesselt hatte, mit den Vorbereitungen für seine Flucht. Der Proviant, den er aus der Speisekammer stahl, der Seesack, den er heimlich auf dem Dachboden füllte und abends zwischen den Ligustersträuchern am Bahndamm versteckte, diesen Schilderungen war ich gleichermaßen gebannt gefolgt wie den Geschichten aus den Büchern, die er als Kind gelesen hatte und deren Handlung er mir genauso detailliert schilderte wie die Ereignisse seiner Kindheit.
Mein Vater war als Kind gemeinsam mit seinem Großonkel Karl in Fürstenau Woche für Woche zur katholischen Leihbibliothek in der Sankt-Georg-Straße gegangen. Die Abenteuerromane, die sie stapelweise ausliehen und im Handwagen nach Hause transportierten, handelten von jugendlichen Ausreißern, die sich am frühen Morgen aus dem Haus ihrer Eltern schlichen und im nächsten Hafen auf dem erstbesten Seelenverkäufer als Schiffsjunge anheuerten, und |149| von Männern, die mit ihrem bisherigen Leben gebrochen hatten, um als Pelztierjäger durch die amerikanische Wildnis zu streifen oder mit einer zerbeulten Blechpfanne faustgroße Goldklumpen aus dem Sand eines reißendes Gebirgsbachs zu waschen.
Ich war jedes Mal enttäuscht, wenn ich später selbst eines dieser Bücher aufschlug, »Lockruf des Goldes«, »Fähnrich Hornblower«, »Huckleberry Finn«, »Der Graf von Monte Christo«, »Moby Dick«. Ich fand nur wenig, manchmal nichts von dem wieder, was mein Vater mir erzählt hatte. So verloren auch die Erinnerungen an seine Kindheit in Fürstenau, die mich über Jahre hinweg wie eine einzige, lange Erzählung begleitet hatten, ihren Zauber. Die Geschichte des Jungen, der sich mit seinem Fahrrad aufmachte, um ganz allein, nur mit einer Wolldecke und einem Esbit-Kocher ausgerüstet, nach Polen zu fahren und sich dort auf die Suche nach seinem Vater zu machen, das war zuletzt nur die traurige Geschichte eines geprügelten Kindes, das es zu Hause nicht mehr aushielt.
An jenem Abend jedoch, als seine Mutter ihn in dem Gasthof abholte und zurück nach Hause brachte, wurde mein Vater nicht bestraft. Marianne entdeckte den schmalen Bleistiftstrich im Schulatlas ihres Sohnes, und er muss etwas in ihrem Gesicht gesehen haben, was auch ein zwölfjähriger Junge verstand. Er bedrängte sie mit Fragen und zwang sie, das Schweigen über Józef Koźlik zu brechen. Tränen flossen, bis sie schließlich zu Bett gingen. Sie lagen noch lange wach, mit rotgeweinten Augen, und es war beinahe so, als ob es tatsächlich eine Familie gab, eine Mutter, ein Kind und irgendwo in der Ferne einen Vater. Er müsste einfach nur zurückkommen, seinen Sohn an die Hand nehmen, wie der |150| Polizist in dem Sommer, als der Schuppen gebrannt hatte, und alles wäre gut.
Die früheste Erinnerung meines Vaters stammt aus dem Jahre 1949. Er hatte den Sommer mit seiner Mutter auf dem Land verbracht, auf einem Bauernhof in der Nähe der niederländischen Grenze. Hier gab es nichts außer ein paar winzigen Dörfern, gelb leuchtenden Rapsfeldern und einem weiten Himmel. Der Hof gehörte Jan Aarnink, einem Schwager von Anna. Mein Vater, der damals drei Jahre alt war, verbrachte die Tage zwischen freilaufenden Hühnern und kläffenden Hunden. Heu kitzelte ihm in der Nase, es roch nach dem Misthaufen, der hinter dem Kuhstall die Fliegen anlockte, und er trank Milch, die direkt aus dem Melkeimer kam und noch warm war. Das Brot buk Jans Frau Else selbst und bestrich es zur Vesperzeit mit frischer, goldgelber Butter. Und an schwülen Abenden, wenn sich von der anderen Seite der Grenze her ein Gewitter näherte, wurde bis zum Einbruch der Dunkelheit auf den Feldern gearbeitet, um die Ernte noch vor dem Regen in die Scheune zu schaffen. Der Dieselmotor eines Traktors tuckerte, Sensenblätter wurden mit dem Wetzstein geschärft, aus der Ferne hörte man das rasselnde Räderwerk einer Dreschmaschine.
Jan Aarnink betrieb Landwirtschaft und unterhielt nebenher eine kleine Pferdezucht. Er hatte schon vor dem Krieg gelegentlich ein Reitpferd verkauft, und in dem Sommer, den Marianne und mein Vater bei ihm auf dem Hof verbrachten, grasten einige Tiere auf einer Koppel neben der Scheune. Jan mochte meinen Vater. Wenn er in die nächste größere Stadt zum Landhandel fuhr oder zu einer |151| Auktion, brachte er
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