Die Legenden der Vaeter
Kittelschürze auf dem Sofa saß. Von nun an traf sie sich mit ihren Verehrern, die mit der Bahn anreisten, in Osnabrück, immer im selben Café am Rand der Altstadt. Meinen Vater nahm sie mit, er bekam eine Tasse heiße Schokolade und wurde dann vor die Tür geschickt. Das Café lag an einem Platz mit einem Brunnen, und mein Vater ließ darin ein Boot schwimmen, das er in Arnolds Werkstatt aus einem Stück Holz geschnitzt hatte, mit einem langen Nagel als Mast und einem Stoffrest als Segel. Als Ehemann kam keiner der Männer in |154| Frage, die Marianne traf. Mein Vater sah nicht einen von ihnen ein zweites Mal.
Zeit verging. Marianne hatte während ihrer Zeit auf der höheren Mädchenschule in Rheine Stenographie gelernt und in einem ungeheizten Raum im Erdgeschoss des Amtsgerichts in Fürstenau einen Abendkurs im Maschineschreiben absolviert. Sie nahm Arbeit als Sekretärin an, erst in der Eisenwarenhandlung in Rheine, dann in der Kaserne der Bundeswehr in ihrer Heimatstadt und schließlich im Unternehmen des Stellmachers, der bei ihrer Verlobung mit Józef als Gast mit am Tisch gesessen hatte. Er hatte die kleine Fahrzeugfabrik, die er während des Krieges gegründet hatte, in den fünfziger Jahren weiter ausgebaut und Kontakt zu Mariannes Eltern gehalten. Als seine Frau starb, hielt er schon nach wenigen Wochen um Mariannes Hand an. Sie heirateten im November des Jahres 1961. Marianne zog zu ihm, in das Haus mit der Hollywood-Schaukel und dem beheizten Swimmingpool, in dem wir sie später an den Sonntagen besuchten.
Meinen Vater, er war damals fünfzehn, ließ sie bei seinen Großeltern in Fürstenau zurück, wie den letzten Rest eines Lebens, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollte. Er sollte die Wochenenden bei ihr und ihrem neuen Mann verbringen, doch es funktionierte nicht. Marianne schlug ihn nicht mehr, aber ihre Wutanfälle waren immer noch maßlos, und darüber hinaus geriet er jetzt mit seinem Stiefvater aneinander. Er war froh, wenn er am Sonntagabend wieder zurück nach Fürstenau durfte und Anna ihm einen Teller mit Bratkartoffeln auf den Tisch stellte, ein Ritual, das sich über all die Jahre hinweg erhalten hatte.
Fürstenau war das Zuhause meines Vaters. Doch als er |155| seinen Großeltern im Frühjahr 1973 einen Besuch abstattete und dabei auf den Brief aus Polen stieß, war diese Welt bereits in Auflösung begriffen. Es dauerte nicht lange, bis nichts mehr von ihr übrig war. Die Obstbäume, die früher zwischen dem Haus und der Werkstatt gestanden hatten, waren gefällt worden, und auch die Johannisbeerbüsche und Stachelbeersträucher gab es nicht mehr, weil der neue Pächter auf einer breiteren Zufahrt bestanden hatte. Das Dach der Hundehütte war morsch geworden, die Garage stand leer, der Borgward war verkauft worden. Der baufällige Holzschuppen, den mein Vater als Kind beinahe in Brand gesetzt hatte, war zum Abriss freigegeben.
Bei Arnold hatten sich die ersten Zeichen der Demenz bemerkbar gemacht, und Anna musste ihn jeden Morgen davon abhalten, sich den grauen Kittel überzuziehen und sich wie früher an die Werkbank zu stellen. Anna selbst, die ihr Leben lang über schwere Beine geklagt hatte, ohne jemals zu einem Arzt zu gehen, verbrachte jetzt ganze Nachmittage im Bett. Sie litt unter Asthma, das Atmen fiel ihr immer schwerer. 1976 starb sie im Krankenhaus von Fürstenau, Arnold, den Marianne zuletzt als Pflegefall zu sich nach Hause geholt hatte, im Jahr darauf. Ich war bei keiner der Beerdigungen dabei. Ich war damals erst fünf, dann sechs Jahre alt, und mein Vater hatte bereits damit begonnen, mir von seiner Kindheit in Fürstenau zu erzählen und jenes Bild zu entwerfen, das von der Wirklichkeit so weit entfernt war.
Fürstenau war nie eine heile Welt gewesen. Nach dem Tod von Anna und Arnold begann eine lange Reihe von Gerichtsprozessen zwischen Marianne und ihrem Ehemann auf der einen Seite und ihrer Schwester Eleonore auf der anderen. |156| Es ging in dem Streit nicht nur um das Grundstück, das Haus und die Werkstatt, sondern um alles, was zum Haushalt gehörte, um Möbelstücke, Teppiche, Läufer und Silberbestecke, um die gerahmten Stiche, die im Herrenzimmer an der Wand hingen, um Arnolds Chaiselongue und Annas Porzellan, um Bettwäsche, Tischdecken und Serviettenhalter. Das war der Grund, warum ich Eleonore nur aus den Erzählungen meines Vaters kannte und auch die anderen Verwandten, die in seinen Geschichten auftauchten, nie getroffen hatte. Ein tiefer Graben
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