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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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lief durch die Familie, der sich nie wieder schließen sollte.
    In dieser Zeit besuchten wir regelmäßig meine Großmutter und den Mann, den ich für meinen Großvater hielt. Wir spielten Familie, Großeltern, Eltern und Enkel, obwohl es im Grunde genommen keine Familie gab. Beim Kaffee drehten sich die Gespräche um Rechtsanwälte, Notare und Grundstückspreise, um Gerichtsvollzieher und Prozesskosten, Teilungsversteigerungen und Vergleiche.
    Ich war zu klein, um zu verstehen, worüber die Erwachsenen sprachen. Wenn ich mich heute an diese Zeit erinnere, dann vor allem deshalb, weil mein Vater mir nach einem dieser Besuche zum ersten Mal von jenem polnischen Soldaten erzählte, der nach dem Ende des Krieges nach Fürstenau gekommen war. Es war eine Geschichte, die mit aller Macht all das zusammenhalten sollte, was nicht zusammenpasste, verträumte Kindheitserinnerungen und eine gewalttätige Mutter, einen Vater, über den nicht gesprochen wurde und der zugleich wie ein Geist durch das Leben seines Sohns spukte, alte Fotos, ein Buch über die Schlacht von Monte Cassino und einen Stapel handgeschriebener Briefe aus Polen.
    |157| Es war auch meine Geschichte. Ich hatte sie mir immer wieder angehört, und sie hatte mich an meinen Vater und an die dunklen und düsteren Ereignisse seiner Kindheit gefesselt wie einen Gefangenen an die meterdicken Wände eines mittelalterlichen Verlieses. Zugleich war sie von all den Geschichten, die er mir erzählt hatte, diejenige, die ich am meisten geliebt hatte. Es kam mir wie ein Verrat vor, als ich im Laufe meiner Recherchen merkte, dass nichts von ihr übrig bleiben würde.

 
    |158| A m 7. Februar 1951 kehrt Józef Koźlik nach Hause zurück. Die Stadt hat ein weiteres Mal ihren Namen gewechselt, statt Lublinitz oder Loben steht nun wieder Lubliniec auf dem Schild am Bahnhof. Der Bäcker ist wieder ein
piekarz
, der Fleischer verkauft
wędliny
statt Wurst und Schinken. Nur ein paar Reklamen, die in der Stadt auf die grau verputzten Brandmauern gemalt worden waren, sind noch geblieben, »Möbel«, »Kohle«, »Umzüge aller Art«. Auch die Straße, in der das Haus seiner Eltern steht, hat einen neuen Namen bekommen, das weiß Józef aus den Briefen, die er in den letzten Monaten von seiner Mutter bekommen hat. Aus dem Körnerweg ist die
ulica Jagusia
geworden, zur Erinnerung an die Familie Jaguś aus Steblau, die während des Krieges von den Deutschen verschleppt und ermordet worden war. Die Toten, das sind die Helden, nicht die, die überlebt haben, und schon gar nicht jemand wie Józef, der das letzte Mal, als er diese Straße entlanglief, die Uniform der deutschen Luftwaffe trug und jetzt einen alten Wintermantel anhat, an dem der Geruch des Gefängnisses haftet.
    Józef war nach der Trennung von Marianne nicht mehr lange in Bückeburg geblieben. Sein Kompagnon Heinrich Schulenberg war in seinen alten Beruf als Elektriker zurückgekehrt, und Józef hatte ein paar Wochen als Handlanger |159| in einer Margarine-Fabrik gearbeitet. Der Winter kam. Er schrieb Briefe an Marianne, doch er bekam nie eine Antwort, und schließlich fuhr er nach Fürstenau. Mariannes Eltern sagten ihm, dass ihre Tochter mit dem Kind zu Verwandten aufs Land gezogen sei. Die Adresse von Jan Aarnink bekam er nicht.
    Józef gab sein Zimmer in Bückeburg auf und ließ sich durch die britische Besatzungszone treiben. Er übernachtete in Notunterkünften und schäbigen Pensionen, und eine Zeitlang kam er in der Kaserne in Braunschweig unter, von der er meinem Vater später in einem seiner Briefe schreiben sollte. Er verbrachte die Nächte in Kasinos und Soldatenkneipen, um nach alten Bekannten Ausschau zu halten, die ihm irgendeine Arbeit hätten besorgen können. Meist lief es darauf hinaus, dass sie sich gemeinsam betranken, und wenn Józef Pech hatte, musste er seine Rechnung auch noch selbst bezahlen. Er hielt sich mit kleinen Geschäften und Gelegenheitsarbeiten über Wasser, Wochen und Monate, ein verlorenes Jahr. Dann ging ihm endgültig das Geld aus. Im Herbst 1949 fuhr er nach Lübeck, wo ein polnisches Konsulat eröffnet worden war. Er füllte Formulare aus, beantwortete endlose Fragen, und nachdem er zehn Tage in einer zugigen Baracke in einem Durchgangslager verbracht hatte, bekam er Anfang Dezember endlich seine Papiere. Er kehrte zurück nach Polen.
    Seine Reise endete nur ein paar Kilometer hinter der neuen Grenze. Der Zug war kaum in Stettin angekommen, als Józef nach einem flüchtigen Blick auf

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