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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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der Halle bedrohlich die Fallschirme hängen. Dazu kommen Geländeübungen in den Feldern und Wäldern rund um den Flughafen, Gepäckmärsche und sogar ein paar Stunden Englischunterricht.
    Nach einer Woche ist es so weit. Józef besteigt eine der bauchigen Dakotas aus amerikanischer Produktion, die die englischen Whitleys als Transportmaschinen ersetzt haben. Der Lärm im Innern des Flugzeugs ist kaum auszuhalten. Das Dröhnen der Motoren bohrt sich in seine Ohren, und als sich die Ladeluke im Boden des Flugzeugs öffnet, kommt das unbarmherzige Heulen des Windes dazu. Józef beißt die Zähne zusammen. Dann gibt der
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das
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. Alles ist genau so, wie er es damals seinen Schwestern in der Küche in Steblau erzählt hat, nur dass es viel schneller geht. Der Sprung dauert nur ein paar Sekunden, der Aufschlag kommt unerwartet, aber Józef übersteht es. Er landet weich. Benommen bleibt er im nassen Gras liegen, dann rappelt er sich auf und beginnt seinen Fallschirm zusammenzulegen. Es sind zehn Kilometer bis zum Flughafen. Die Soldaten müssen den Weg zu Fuß zurücklegen.
     
    Nach dem ersten Sprung gehört man dazu. Józef lässt in Ringway das Foto anfertigen, das Anna mir sechzig Jahre später bei meinem ersten Besuch in Steblau schenken sollte. Auf dem Ärmel seiner Lederjacke prangt der Schriftzug |180|
Poland
, und unter dem Revers blitzt das polnische Fallschirmjägerabzeichen hervor. Es wird nicht von einem Adler geziert wie das deutsche Abzeichen, sondern von einem Habicht mit angelegten Flügeln, der einen Lorbeerkranz im Schnabel trägt. Józef ist kein Held, aber er sieht aus wie einer.
    Abends, wenn er mit den anderen durch die Kneipen rund um den Flughafen zieht, saugt er Geschichten auf. In Ringway wimmelt es nur so von Polen: Flieger, Mechaniker und Stabsoffiziere, Fallschirmjäger und Funker. Selbst die jungen Frauen, die in einer länglichen Baracke neben der Trockenhalle die Fallschirme zusammenlegen, sind Polinnen. Sie sind mit ihren Familien schon lange vor dem Krieg nach England gekommen, und ihre Väter, die in den Gruben und Fabriken rund um Manchester arbeiten, kommen am Samstag auf ein paar
pints
nach Ringway, um sich unter die jungen Männer zu mischen, die für das ferne Vaterland in den Krieg ziehen.
    Die Luftkämpfe über England, die Anders-Armee, die Schlacht um Monte Cassino, an diesen Geschichten halten sich die polnischen Soldaten im Herbst 1944 fest. Die Legenden von den Heldentaten der
Siły Zbrojne Polskiej na Zachodzie
, den polnischen Streitkräften im Westen, sind das Gegenmittel zu den schlechten Nachrichten, die aus Polen nach England dringen. Der Aufstand der Heimatarmee war nach zwei Monaten erbitterter Kämpfe gescheitert. Die Altstadt von Warschau liegt in Trümmern, es hat zahllose Tote gegeben. Wehrmacht und Waffen-SS waren erbarmungslos gegen die Bevölkerung der Stadt vorgegangen, es war zu Massenerschießungen gekommen, und wer überlebt hatte, war ins KZ verschleppt worden. Und noch |181| etwas hat sich im polnischen Quartier in Ringway herumgesprochen. Während die Deutschen den Aufstand in Warschau niederschlugen, hatte die Rote Armee, die mittlerweile weit nach Westen vorgerückt war, vom anderen Ufer der Weichsel aus tatenlos zugesehen. Stalin hatte für die Heimatarmee, die unter dem Befehl der Londoner Exilregierung stand, keine Verwendung mehr. Er verfolgte seine eigenen Pläne für die Zukunft Polens.
    Im Dezember hat Józef den Fallschirmkurs beendet, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass er und die polnischen Soldaten an die Front verlegt würden. Nach der Niederlage bei Arnheim ist die Brigade für weitere Einsätze gesperrt. Józef verbringt Weihnachten in Ringway, während auf dem Kontinent noch einmal schwere Gefechte ausgetragen werden. Im März 1945 überqueren amerikanische Einheiten bei Remagen den Rhein, Bremen und Hamburg werden eingenommen. Die Rote Armee rückt in das oberschlesische Industriegebiet vor und setzt kurz darauf zum Angriff auf Berlin an. Auf dem Hof der Kaserne sammelt sich der Regen in Pfützen. Der Krieg geht ohne Józef Koźlik zu Ende.

 
    |182| J ózefs Schwester Hilda hat ihm eine Stelle besorgt. Ein paar Tage nach seiner Entlassung aus dem Stargarder Gefängnis fängt er im Februar 1951 als Hilfsarbeiter in Lublinitz in der Molkerei an. Zwei Wochen lang steht er am frühen Morgen auf, nimmt Marias Fahrrad, mit dem er früher seinem Vater Augustyn das Mittagessen an die Gleise gebracht hat, und fährt von

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