Die Legenden des Raben 03 - Schattenherz
der Außenwand des nördlichen Kornspeichers war genug Platz, um sich hindurchzuquetschen. Die Tatsache, dass über die Stadt eine Ausgangssperre verhängt worden war, erwies sich als Segen, denn die TaiGethen bewegten sich nahezu lautlos. Die zahlreichen Patrouillen, die in der Stadt unterwegs waren, machten einen Lärm wie Signalhörner und waren schon aus weiter Entfernung zu hören.
Es war gespenstisch, dachte Denser. Irgendwie irreal. Xetesk lag im Sterben. Langsam zwar, aber es starb. Doch unter der anscheinend stillen Hinnahme des Schicksals brodelte
eine mühsam unterdrückte Energie. Weder das Kolleg noch die Stadt würden kampflos untergehen. Die Frage war nur, wann diese Energie ausbrechen würde.
Die Eindringlinge bewegten sich vorsichtig und legten mehr Wert auf Verstohlenheit denn auf Geschwindigkeit. Es hatte keinen weiteren Alarm auf den Wällen gegeben, woraus sie schließen konnten, dass es nicht um ihr Eindringen gegangen war. Dies würde sich jedoch bald ändern. Nicht mehr lange, und die Wachen würden abgelöst, oder jemand würde die Tür einer Wachstube öffnen, in der es unerwartet dunkel war. Jemand würde das Blut auf dem Stein sehen oder die sieben Wächter vermissen. Mit etwas Glück würde es zu dieser Entdeckung erst kommen, wenn sie bereits im Kolleg waren.
Unterwegs betrachtete Denser die Rabenkrieger. Er sah Mitgefühl und Entschlossenheit in ihren Gesichtern und spürte bei jedem Schritt ihre beruhigende Nähe. Sie beobachteten den Boden vor sich genau und passten ihre Bewegungen so gut sie konnten den TaiGethen an. Statt auf Stein und Kies liefen sie lieber über Erde und Gras, drückten sich in den Gassen in die Schatten und hielten den Atem an, wenn sie eine größere Straße überqueren mussten. Nicht einmal die TaiGethen vermochten allen Hindernissen auszuweichen.
Fast hätten sie es unentdeckt geschafft. Auum hatte die Gruppe zu den Lagerhäusern hinter dem Künstlerviertel geführt, in dem er sich inzwischen gut auskannte. Wider Willen war er beeindruckt von der Fähigkeit des Raben, sich leise zu bewegen. Als sie die Gasse betraten, in der sie in der vergangenen Nacht die Wächter getötet hatten, sah er, dass jemand die Leichen weggeräumt hatte. Nur die toten Diebe lagen noch dort.
»Sie wissen, dass wir hier waren«, sagte er zu Duele.
»Das war unvermeidlich«, erwiderte der Gefährte.
»Dennoch ist es unglücklich. Gib es weiter.«
Er schlich zum Ende der Gasse und blickte zum Kolleg hinüber. Die Folgen der Entdeckung waren nicht zu übersehen. Auf dem Pflaster vor dem Kolleg marschierten zielstrebig Wächter hin und her. Auum beobachtete sie lange und erkannte, dass sie einander dicht genug folgten, um jeweils mindestens eine andere Streife überwachen zu können. Ähnlich sah es auf den Mauern aus. Die Wächter patrouillierten zu zweit, Späher beobachteten die Stadt, Bogenschützen standen neben ihnen.
Als er sich wieder zurückziehen wollte, wurde Alarm gegeben. Im Süden flammten Lichter auf, ein Warnfeuer wurde entfacht. Männer rannten auf der Mauer entlang, Rufe hallten vom Kolleg herüber. Das südliche Tor wurde geöffnet, eine Abteilung Soldaten kam im Dauerlauf heraus und verschwand in einer Straße. Die Streifen liefen unterdessen nicht mehr im Kreis auf dem Pflaster herum, sondern schwärmten direkt vor den Gefährten aus.
Auum wich rasch zurück, als er aus dem Kolleg Gestalten zum Himmel aufsteigen sah. Wie große Vögel flogen sie, doch ohne deren Anmut. Er verfolgte die Flugbahn. Sie hatten Flügel wie Fledermäuse und Köpfe wie kahl rasierte Affen, und ihre Rufe waren wie diabolisches Gelächter, in das sich abgehackte Sätze mischte. Schaudernd drehte er sich um und eilte zu seinen Gefährten zurück.
»Sie kommen«, meldete er, und Rebraal übersetzte für den Raben. »Wir müssen uns bewegen. Denser wird uns jetzt führen.«
Es gab nichts weiter zu besprechen. Von seinen Freunden umgeben, drehte Denser sich um und lief rasch und leise hinter dem Lagerhaus entlang. Auum gab Evunn und Duele ein Zeichen, noch zu warten und ihnen den Rücken freizuhalten.
Am anderen Ende des gedrungenen, niedrigen Gebäudes blieb Denser stehen, und der Unbekannte Krieger sah sich links und rechts um, bevor sie einen schmalen Weg überquerten und auf der anderen Seite zwischen zwei weiteren Lagerhäusern in einem anderen Gang verschwanden. Links von ihnen waren ständig Alarmrufe zu hören, die sich zum Glück nur langsam näherten.
Diese beiden
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