Die Legenden des Raben 05 - Drachenlord
tun?«
»Also, das weiß ich nicht, Mylord«, erwiderte Sharyr, dem Dystrans Sarkasmus völlig entgangen war.
Dystran trat noch näher an Sharyr heran, was den jungen Mann veranlasste, abermals zurückzuweichen.
»Dann will ich Euch erleuchten.« Seine Worte verrieten seine lange Übung als Machthaber, denn sie waren kaum mehr als ein Flüstern, und doch voller Drohungen. »Ihr werdet bereit sein, den Spruch zu wirken, weil wir beide ganz genau wissen, dass die Konjunktion erzwungen und dem Spruch unterworfen werden kann. Ich habe ausführliche Kommentare zu diesem Thema verfasst. Der Spruch ist schwer zu beherrschen, und Ihr werdet Eure Untergebenen anweisen, wie sie mit den Kräften umzugehen haben. Ihr werdet sie auch über die Konsequenzen unterrichten, die sie im Falle eines Scheiterns zu tragen haben. Rückschläge von Dimensionssprüchen sind eine sehr, sehr hässliche Angelegenheit.«
Sharyr stand inzwischen mit dem Rücken zum Kamin. Glücklicherweise brannte kein Feuer darin.
»Die Gefahr für unsere Stadt …«, setzte er an.
Dystran beugte sich noch weiter vor. »Die Wesmen werden das Kolleg erobern, wenn sie nicht aufgehalten werden. Das ist die Gefahr für unsere Stadt. Ihr werdet sie aufhalten oder beim Versuch sterben. Falls jemand aus Eurer Gruppe meint, er sei der Aufgabe nicht gewachsen, kann er sich bei mir melden, und ich werde mit ihm darüber reden.«
»Ich …«
»Enttäuscht mich nicht, Sharyr.«
Dystran richtete sich auf und trat einen Schritt zurück, um das verängstigte Gesicht des Adepten zu betrachten,
die Schweißperlen auf seiner Stirn und die hin und her zuckenden Augen. Er lächelte. »Kennt Ihr den Schlachtruf ›Tod oder Ruhm‹? Ich möchte wetten, Ihr habt gedacht, er gilt nur für Soldaten, was? Denkt noch einmal darüber nach, geht in die Katakomben, und trefft Eure Vorbereitungen. Wenn der Augenblick gekommen ist, werde ich Euch persönlich auf die Stadtmauer rufen. Nun geht.«
Sharyr hatte noch die Geistesgegenwart, sich wenigstens zu verneigen und zu murmeln: »Mylord.«
Die Tür des Empfangszimmers öffnete sich, bevor er sie erreichte. Ein alter Mann mit tränenüberströmtem Gesicht stand im Schein der Kohlenpfanne auf der Treppe. Es war Brannon, seit Jahrzehnten Ranyls Kammerdiener.
»Bitte, Mylord«, sagte er. »Ihr müsst schnell kommen.«
Dystran hatte das Gefühl, im Boden zu versinken, und die Furcht ließ ihn schaudern.
»Oh nein«, keuchte er und lief los. »Nicht jetzt. Nicht gerade jetzt.«
Zweites Kapitel
Hirad Coldheart saß vor dem Refektorium von Julatsa auf der Treppe. Es war eine warme, friedliche Nacht. Hier und dort waren draußen vor dem Kolleg Lebenszeichen zu hören. Ein Wagen rumpelte übers Pflaster, Pferdehufe hallten zwischen leeren Gebäuden, irgendjemand rief einen Gruß. Er atmete tief durch, bis die Brustverletzung unter dem Verband schmerzte. Sie heilte nur langsam. Die Magie hatte die Muskeln repariert, aber die Haut war noch wund und spannte sich. Ein Zeichen des Alters, nahm er an. So ähnlich wie die grauen Strähnen in seinen langen Zöpfen.
Eigentlich hatte er keinen Grund dazu, aber er war erleichtert. So viele Schwierigkeiten gab es noch in Balaia, doch zum ersten Mal seit langer Zeit waren er und der Rabe nicht durch ihre Ehre oder einen Vertrag verpflichtet, irgendetwas zu tun. Er hätte sich dennoch Sorgen machen müssen, aber irgendwie konnte er sich nicht dazu überwinden. Nicht in diesem Augenblick. Vielleicht nie wieder.
In Julatsa gab es Spannungen, seit diejenigen, die geflohen waren, zurückkehrten. Die Herrscher der Stadt fanden
immer noch nicht den Mut, im Kolleg vorzusprechen. Es würde Streit geben, da war er sicher. Abgesehen davon hatten die Kämpfe zwischen Dordover, Xetesk und Lystern vermutlich immer noch nicht aufgehört. Sie würden aufeinander einschlagen, bis ein ermattetes Patt eintrat, viel zu stolz, um über einen Frieden zu verhandeln, solange sie nicht so viel Blut vergossen hatten, wie es nur irgend möglich war.
Er hätte sich Sorgen über das Schicksal des Landes machen müssen, das er liebte, aber irgendetwas fehlte ihm hier. Wenn er zum Herzen von Julatsa schaute, über dem bald ein neuer Turm errichtet werden sollte, dann wusste er auch, was es war. Es ging nicht um ein großartiges Land, das es wert war, gerettet zu werden. Es ging um die Menschen, die er liebte und die dort leben wollten. Sie waren tot oder gingen fort. Jeder Einzelne.
Auch wenn Ilkar der Tropfen gewesen war,
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