Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)
zu verteidigen – nicht, dass ich nicht ohnehin auf den Baum geklettert wäre –, starrte ihn aber stattdessen mit aufgesperrtem Mund an wie ein entsetzter Wasserspeier. Ich wies auf seine Tunika. Er hob die Hand und tastete instinktiv nach einer Wunde, bevor er es bemerkte. Hamiathes’ Gabe war verschwunden. Er blickte auf den glatt durchschnittenen Lederriemen hinab, der ihm über eine Schulter hing, fuhr ungläubig mit der Hand darüber und suchte dann hektisch die Falten seiner Kleidung ab. Er sah an den Zwieseln seines Sattels und in den Satteltaschen nach, bevor er vom Pferd sprang und fluchend in den Bach watete. Pol und Sophos folgten ihm, aber zu dem Zeitpunkt war schon zu viel Schlamm im Wasser aufgewirbelt. Es war nichts zu sehen.
»Was ist los? Was ist geschehen?«, schrie Ambiades vom Ufer her. Er war der Einzige von uns, der noch im Sattel saß.
»Der Stein, der verfluchte Stein«, sagte der Magus. »Ich habe ihn beim Kampf verloren. Verdammt, wer zur Hölle sind diese Leute?«, fragte er und schob einen Leichnam von einer Kiesbank mitten im Strom.
»Sind sie alle tot?«, fragte Ambiades.
»Ja, sie sind tot. Komm her und hilf mir mit dem hier.«
Sie zogen die Toten aus dem Wasser, während ich vergessen im Baum saß. Ich flocht sehr sorgfältig mein Haar neu und sah zu. Als die Leichen am Ufer aufgereiht lagen, besann sich der Magus auf mich.
»Komm herunter und hilf uns suchen«, sagte er zu mir. Er war abgelenkt und bat eher, als dass er befohlen hätte.
Widerwillig ließ ich mich vom Baum gleiten und ging um die Leichen herum. Es waren Soldaten der Königin von Attolia. Einer von ihnen war Leutnant. Er war jung und sah mit dem nassen Haar, das an seiner Stirn klebte, und dem Wasser, das ihm übers Gesicht perlte, noch jünger aus. Er hatte die anderen Reiter geführt, als sie auf uns zugeritten waren – hatte sie direkt auf Pols Schwertspitze geführt.
Ein Teil seiner Uniform war weder von Blut noch Wasser durchnässt, und die Form – ein Buntnesselblatt – stach mir ins Auge. Nach einem Augenblick bückte ich mich, um ein wenig Wasser aus dem Bach zu schöpfen, und träufelte es über den trockenen Fleck auf seiner Tunika. Ich benetzte das Bild, bis es mit der Nässe des Rests seiner Uniform verschmolz. Das Wasser war kalt. Es spritzte ihm auf den Hals und bildete in der Vertiefung über seinem Schlüsselbein eine Lache, aber es machte ihm nichts aus, und er hatte es nicht verdient, auf dem Weg in die Unterwelt mit dem Feiglingsblatt gezeichnet zu sein.
Als das Mal verschwunden war, richtete ich mich auf und bemerkte, dass Pol mich beobachtete. Ich zuckte die Achseln und rieb mir die Hände an der Hose ab, aber meine Hose war schlammbeschmiert, und so hatte ich mir die Hände letztendlich nicht nur nass, sondern auch schmutzig gemacht.
Wir ließen die Leichen am Ufer liegen, während der Magus die Suche nach Hamiathes’ Gabe organisierte. Sobald der Schlick sich gesetzt hatte, ließ er uns in einer Reihe quer durch den Bach Aufstellung nehmen, ein gutes Stück unterhalb des Orts, an dem der Kampf stattgefunden hatte. In einer Linie arbeiteten wir uns flussaufwärts, bis der Magus sicher war, dass wir über die Stelle hinaus waren, an der er den Stein verloren hatte. Die Strömung war nicht stark genug, um den Stein weit mitgerissen zu haben, aber er unterschied sich nicht von den Tausenden anderer Kiesel im Bachbett. Nur der Magus und ich hatten den Stein je in der Hand gehalten; Ambiades hatte ihn noch nicht einmal gesehen. Wir blieben eine Viertelstunde dort und starrten allesamt den Kies zu unseren Füßen an.
Schließlich meldete Pol sich zu Wort. »Er ist weg, Magus.«
Wir anderen starrten weiter das Bachbett an.
»Magus.« Pol sprach jetzt mit mehr Nachdruck, und diesmal hoben wir die Köpfe. Ambiades, Sophos und ich sahen zwischen dem Magus und seinem Soldaten hin und her.
»Ja«, stimmte der Magus nach einem langen Augenblick des Schweigens zu. »Wir müssen weiter. Ambiades, hol die Pferde und führe sie auf diese Seite des Bachs. Sophos, sieh nach, ob eines der anderen Pferde noch in der Nähe ist. Wir sollten sie anbinden. Wenn sie Satteltaschen haben, dann sieh nach, ob etwas zu essen darin ist.«
Drei der Pferde standen bei unseren – geteiltes Leid ist halbes Leid –, aber das vierte war verschwunden, wahrscheinlich auf dem Rückweg in sein Lager.
»Wir haben jetzt keine Zeit, es einzufangen«, sagte der Magus. »Wir müssen so schnell vorankommen,
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