Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)
mehr geben würde, worum sie sich bemühen mussten, aber der Karren war wohl über eine besonders unebene Stelle geholpert: Der blaue Himmel über mir war rot geworden und dann schwarz.
Sophos riss mich aus meinen Erinnerungen, indem er fragte: »Wer hat dir beigebracht, so zu kämpfen?«
»Mein Vater.«
»War er sehr erzürnt, als er erfahren hat, dass du ein Dieb bist?«
Ich dachte an den Streit, zu dem es gekommen war, als ich meine Anwerbungspapiere für die Armee in Fetzen gerissen hatte. »Ja.« Doch wir standen einander viel näher, seit die Angelegenheit beigelegt worden war. »Aber mittlerweile hat er sich daran gewöhnt.«
»Du hättest Soldat werden sollen«, sagte Sophos. »Du warst besser, als Ambiades je war. Ich glaube, deshalb hat er noch einmal ›Gut, dass wir ihn los sind‹ gesagt, und dann hat Pol …« Sophos brach ab.
Ich öffnete die Augen und sah, dass er weinte. Er fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht, um sich einen Teil des Rotzes und der Tränen abzuwischen. Ich hatte nicht an das denken wollen, was am Fuße der Klippe geschehen war, und Sophos nicht an das, was sich oben abgespielt hatte.
Er wischte sich noch mehr Tränen weg und fuhr nach einigen tiefen Atemzügen leise fort: »Der Magus sagte zu Ambiades, dass es keinen Anlass zur Freude gäbe, und der Hauptmann der Garde sagte, oh doch, und Ambiades wirkte erst irgendwie, als sei ihm übel, wie dem Magus, aber dann begann er, selbstzufrieden dreinzublicken. Und dann wurde uns allen klar, dass er es gewesen war, der den Attoliern von dem Steig die Klippe hinauf erzählt hatte.«
Ich erinnerte mich an Ambiades’ kostbaren Schildpattkamm, der dem Magus ins Auge gefallen war. Er musste sich gefragt haben, woher Ambiades das Geld gehabt hatte, ihn sich zu leisten. Ich hatte schon vermutet, dass Ambiades in fremdem Sold stand und von Zeit zu Zeit ein schlechtes Gewissen deswegen hatte, aber ich hatte angenommen, dass er sich von einem Feind des Magus am Hofe von Sounis bezahlen ließ. Es war mir und offenbar auch dem Magus nicht in den Sinn gekommen, dass er seinen Lehrmeister an die Attolier verraten haben könnte.
»Ambiades wollte etwas sagen, aber dann hast du geschrien.«
Ich hatte geschrien?
»Wir konnte dich von oben auf der Klippe hören, als sie das Schwert herauszogen«, erzählte Sophos mit zitternder Stimme – und ich erinnerte mich. Das war der verworrene, schreckliche Teil. Ich hatte gespürt, wie mein Leben mit dem Schwert aus mir herausgezerrt wurde, aber am Ende hatte mein Leben sich nicht lösen wollen. Es hatte sich zwischen mir und dem Schwert gespannt. Ich glaube, dass nur die Macht der Götter mich am Leben erhalten haben kann, aber mein Überleben beleidigte sie zugleich. Ich hätte sterben sollen, aber stattdessen ging der Schmerz immer weiter. Es wäre so viel einfacher gewesen zu sterben.
Ich erschauerte, und der Schmerz kehrte zurück und verschlug mir den Atem. Sophos hielt meine Hand, bis er sich legte.
»Alle haben zu dir hinuntergesehen«, sagte er. »Dann blickten wir uns nach Ambiades um, und es war ihm gleichgültig. Ich will damit sagen, dass wir sehen konnten, dass es ihm gleichgültig war, dass du tot warst. Ich glaube nicht, dass es ihm noch auf irgendetwas ankam, auch nicht auf mich oder den Magus oder Pol. Und Pol … er hat einfach eine Hand ausgestreckt und Ambiades über die Kante gestoßen. Und dann …« Sophos hielt inne, um noch einmal tief Luft zu holen, bevor er fortfuhr: »Dann hat er sich selbst von der Klippe gestürzt, mit zweien der Attolier. Der Magus versuchte, sein Schwert zu ziehen, aber die Soldaten schlugen ihn nieder.« Sophos zog die Knie bis an die Brust und wiegte sich vor und zurück, während er weinte.
Mit einer langsamen Bewegung hob ich eine Hand bis an sein Bein, um es zu drücken. Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können. Ich hatte Pol gemocht.
»Ich … kenne Pol schon mein Leben lang«, sagte Sophos stockend. »Ich will nicht, dass er tot ist«, beharrte er, als ob seine Wünsche dann erfüllt werden könnten. »Er hat eine Frau und zwei Kinder«, wimmerte er, »und ich werde es ihnen sagen müssen.«
Ich erschauerte und schloss wieder die Augen. Der Mann, den ich getötet hatte, konnte keine Ahnung gehabt haben, dass er einem fähigen Gegner gegenüberstand. Er hatte mich anhand meines Anfängerschwerts und meiner Körpergröße beurteilt. Ich hatte ihn überrumpelt und getötet. Ich hätte ihn genauso gut in einer dunklen Gasse
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