Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)
Ich wandte den Kopf wieder zur Decke der Zelle und blinzelte mir Wasser aus den Augen. Der Magus spürte meine Verzweiflung und schleppte sich über den Boden, um mich zu trösten.
»Gen, es war ein alter Tempel. Der Zusammenbruch der Haupttür war wahrscheinlich das erste Anzeichen der Schäden, die der Aracthus angerichtet hat, als er sich irgendwo durch einen neuen Eingang hereingezwängt hat. Innerhalb der nächsten paar Tage hat die Gewalt des Wassers dann den Tempel vollkommen zerstört. Alles, was der Mensch geschaffen hat, wird irgendwann zerstört.« Er fing eine Träne ab, die auf mein Ohr zurollte. »Aber ich wünschte, ich wäre mit dir hineingegangen«, sagte er. »Ich werde mich immer fragen, was du gesehen hast.« Er wartete einen Moment in der Hoffnung, dass ich etwas sagen würde.
»Willst du mir nicht davon erzählen, oder kannst du es nicht?«, fragte er.
»Ich kann nicht«, gestand ich. »Nicht, dass ich es sonst tun würde«, neckte ich ihn.
Er lachte und berührte noch einmal meine Stirn, um festzustellen, ob ich Fieber hatte.
Ein Wachsoldat brachte weiteres Essen. Der Magus und Sophos aßen. Das Geviert gelben Sonnenlichts auf der dem Fenster gegenüberliegenden Wand war verblasst, als wir abermals Schritte auf dem Gang hörten und wussten, dass die Königin auf der Burg eingetroffen sein musste und nach dem Magus schickte.
»Ich werde für dich tun, was ich kann, Gen«, versprach der Magus, als er aufstand. Sie nahmen auch Sophos mit, und ich blieb allein in der Zelle zurück und fragte mich, was der Magus glaubte, für mich tun zu können.
Die Zelle war pechschwarz, als er zurückkehrte. Die Wachen trugen Laternen, und ich schloss die Augen gegen ihren grellen Schein; ich nahm an, dass sie bald wieder fort sein würden. Als jemand mich mit dem Stiefel anstieß, stöhnte ich ein wenig, teils, weil es wehtat, teils, weil ich empört war, dass sie mich störten. Ein kräftigerer Stoß traf meine Rippen, und ich öffnete die Augen. Vor mir stand zwischen dem Magus und dem Hauptmann der Garde die Königin von Attolia.
Sie lächelte über mein Erstaunen. Im Licht, umgeben von der Dunkelheit, die außerhalb der Reichweite der Laternen lag, schien sie von der Aura der Götter erleuchtet zu sein. Ihr Haar war schwarz und wurde ihr von einer Nachahmung von Hephestias gewebtem Goldband aus der Stirn gehalten. Ihr Kleid war wie ein Peplos in Falten gelegt und bestand aus besticktem rotem Samt. Sie war so groß wie der Magus und schöner als jede andere Frau, die ich je gesehen hatte. Alles an ihr erinnerte an die alte Religion, und ich wusste, dass die Ähnlichkeit beabsichtigt war und darauf abzielte, ihre Untertanen daran zu erinnern, dass diese Frau so unangefochten über Attolia herrschte wie Hephestia über die Götter. Nur schade, dass ich die Große Göttin gesehen hatte und wusste, wie wenig die attolische Königin ihr das Wasser reichen konnte.
Sie sprach, und ihre Stimme war leise und lieblich. »Der Magus von Sounis lässt mich wissen, dass du ein Dieb von unübertroffener Meisterschaft bist.« Sie lächelte sanft.
»Das bin ich«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Er deutet jedoch an, dass deine Loyalität deinem Heimatland gegenüber nicht stark ausgeprägt ist.«
Ich zuckte zusammen. »Ich empfinde keine besondere Loyalität dem König von Sounis gegenüber, Euer Majestät.«
»Was für ein Glück für dich. Ich glaube nicht, dass er dir große Achtung entgegenbringt.«
»Nein, Majestät, das tut er vermutlich nicht.«
Sie lächelte erneut und zeigte ihre perfekten Zähne. »Dann gibt es nichts, was dich davon abhalten könnte, in Attolia zu bleiben und mein Dieb zu werden.« Ich warf einen Blick auf den Magus. Das war der Gefallen, den er mir getan hatte: Er hatte die Königin überzeugt, dass ich zu wertvoll war, um weggeworfen zu werden.
»Äh«, sagte ich, »eines gibt es, Euer Majestät.«
Die Augenbrauen der Königin hoben sich zu zierlichen Bögen der Verwunderung. »Und was wäre das?«
Ich musste mir rasch etwas einfallen lassen. Mein Taktgefühl verbot mir zu sagen, dass ich sie für eine Dämonin aus der Unterwelt hielt und dass noch nicht einmal Berglöwen mich dazu hätten bringen können, in ihre Dienste zu treten. Als ich nach etwas weniger Heiklem suchte, was ich sagen könnte, fiel mir die Bemerkung des Magus an den Ufern des Aracthus wieder ein. »Es gibt eine Frau, die ich liebe«, sagte ich in tiefster Überzeugung. »Euer Majestät, ich habe ihr
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