Die Legenden von Attolia 4: Die Verschwörer (German Edition)
raffte ich allen Mut zusammen und sah zu ihm hinüber, um zu bemerken, dass er argwöhnisch zurückstarrte. Ich versuchte ein verbindliches Lächeln. Er senkte hastig den Blick auf sein Essen und schaute nicht wieder auf. Ich sah mich unter den anderen Männern um und begriff, dass auch sie sich vor mir fürchten mussten, wenn sie mich jeden Abend als Ersten essen ließen. Vor mir. Nicht vor meinem Vater oder vor der Macht meines Onkels. Vor mir.
Ich schluckte mein Lachen hinunter, konnte mein Lächeln aber nicht zurückhalten.
Der neue Arbeiter hieß Runeus. Als wir nach dem Essen wieder an die Arbeit gingen, beschwerte er sich mit gesenkter Stimme darüber, dass er einem Sklaven den Vortritt hatte lassen müssen, aber Helius, der Ochtos unbestrittene rechte Hand und ebenfalls Sklave war, warf ihm über die Schulter einen Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte. Ich setzte alles daran, so dreinzusehen wie jemand, der einen anderen Menschen getötet hat. Nun, da ich dir das erzähle, wird mir bewusst, dass damals schon zwei Männer von meiner Hand gestorben waren, aber irgendwie dachte ich nicht an sie. Ich spielte den anderen Männern in der Baracke etwas vor.
Zu meinem fortgesetzten, aber wohlverborgenen Erstaunen forderte Runeus mich nie wieder heraus. Stattdessen gingen die Dinge wie zuvor ihren Gang. Nur, dass ich jetzt wusste, dass mein Platz in der Essensreihenfolge kein glücklicher Zufall war, sondern meine Stellung in der Hierarchie der Feldarbeiter bezeichnete.
Am nächsten Ruhetag sah einer der Männer erst mich und dann den Aufseher an. »Wir dachten, wir gehen an den Strand. Kann der Totschläger hier mitkommen?« Die Männer zogen in ihrer Freizeit oft ans Wasser hinunter oder gingen spazieren, um Freunde in anderen Feldhäusern zu besuchen oder den Würfelspielen oben auf der Terrasse hinter dem Megaron zuzusehen.
Ochto musterte mich. Ich hatte darauf geachtet, keine Schwierigkeiten zu machen, und Ochto hatte sich seit vielen Tagen nicht mehr die Mühe gemacht, mir nachts die Kette ums Handgelenk zu schließen.
Ochto nickte. Entzückt sprang ich auf und folgte den anderen Männern. Wir nahmen die Straße in Richtung Stadt und bogen dann auf einen schmalen Pfad zum Ufer ab, der uns zu einem Felseinschnitt führte, durch den wir zum Strand hinunterklettern konnten, um zu schwimmen und dann in der Sonne oder im Schatten zu liegen, je nachdem, ob man es lieber warm oder kühl hatte.
Ich war glücklich. So schwer es dir fallen muss, mir das zu glauben … trotz der Trauer, die ich noch immer um meine Mutter und meine Schwestern empfand, war ich glücklich. Niemand war böse auf mich, enttäuscht von mir oder empfand mich als Last. Ich hatte nichts zu tun, als im warmen Sand zu sitzen und aufs Meer hinauszublicken.
Oreus, der Mann, dem ich meinen Tag am Meeresufer zu verdanken hatte, ließ sich neben mir in den Sand fallen. »Na, Totschläger?«, fragte er. »Hast du einen Namen?«
Ich dachte nach, bevor ich antwortete. »Weisheit« ist kein Name für einen Sklaven. »Stein«, »Ziel«, »Treu« und »Stark« sind Sklavennamen. Ich hatte einst eine Amme gehabt, die ihren Sohn »Schaufel« genannt hatte. Sie war Ausländerin von irgendwo aus dem hohen Norden gewesen und hatte mir gesagt, dass ihr der Klang des Worts gefallen hätte. Sie hatte mir einige Wörter aus ihrer eigenen Sprache beigebracht, aber das einzige, an das ich mich erinnern konnte, war »Zec«, und die Bedeutung wollte mir einfach nicht einfallen.
»Zec«, sagte ich, als hätte mein Mund von sich aus beschlossen zu sprechen.
»Das ist ein hurrischer Name.« Oreus wirkte überrascht. »Stammst du aus Hur?«
»Nein«, antwortete ich. »Meine Mutter hat ihn irgendwann einmal gehört.«
»Er bedeutet ›Kaninchen‹«, erklärte Oreus.
Ich lächelte. »Kaninchen« war perfekt.
»Sag mal, Kaninchen, machst du jetzt gerade ein zufriedenes Gesicht? Ich kann das nicht einschätzen.«
Ich betastete meine Oberlippe und rieb mit dem Daumen über das Narbengewebe. Ich konnte spüren, dass es meinen Mund verzerrte. Auch meine Nase wies in der Mitte einen neuen Höcker auf. Vielleicht sah ich mehr nach einem Totschläger aus, als es mir bisher bewusst gewesen war.
»Wir sollten dich Zecush nennen«, sagte Oreus. »Häschen.« Er versetzte mir einen sanften Stoß gegen den Arm, und ich fiel beinahe um. »Komm schwimmen!«
Die anderen Männer schienen es sehr lustig zu finden, dass ein Totschläger nach einem jungen Kaninchen benannt war.
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