Die Legenden von Attolia 4: Die Verschwörer (German Edition)
verabscheute, erträumte ich mir eine weit bessere Hauslehrerin, die meine Fragen zu allen Themen beantworten konnte und mir nie Rutenhiebe auf die Hände versetzte. Sie erwartete mich eines Nachts. Groß sogar für einen Mann und umso mehr für eine Frau war sie in einen weißen Peplos gekleidet und sah ganz so aus, als sei sie aus einem alten Vasengemälde hervorgetreten. Sie war wie die Göttin, die als Mentorin in einem Epos erscheint, und ich kam mir vor wie der junge Oenius. Es war ihre Bibliothek, da war ich mir sicher, und ich war dort als Gast willkommen.
Ich hatte in der vorherigen Nacht geträumt, dass ich Poers’ Geschichte der Brukten in den Händen gehalten und den ersten Teil gelesen hätte. Der Magus hatte das Buch einmal für mich aus seinen Notizen zusammengefasst. Er hatte es in einer Bibliothek in Ferria gelesen, besaß aber selbst keine Kopie davon. Ich hatte in letzter Zeit über meinen Onkel und darüber, was für ein König er war, nachgedacht; zweifelsohne war das der Grund dafür, dass mir das Buch in den Sinn gekommen war.
»Was hältst du von Poers, Häschen?«, fragte mich meine Lehrerin. »War Komanare der Brukte ein schlechter König?« Sie wies mir einen Stuhl an und ließ sich auf einem gegenüber von mir nieder.
Ich war nicht sicher, wie ich beginnen sollte.
»Vertraust du Poers?«, fragte sie.
»Nein.«
»Nun, das war klar.« Sie lächelte, und ich entspannte mich. »Erzähl mir warum.«
Also nahm ich Poers’ Argumente auseinander, suchte die Stellen, an denen man vermuten konnte, dass der Autor etwas verheimlichte, ohne genau zu wissen, was es war. Es war mein erstes Gespräch mit meiner imaginären Hauslehrerin und das erste von vielen Malen, dass sie sich so geduldig, wie Malatesta es nie getan hatte, alles anhörte, was ich zu sagen hatte, um dann eine sanfte Frage zu stellen oder eine Beobachtung anzubringen. Poers fand immer Entschuldigungen für Komanare den Brukten. Der König erschien andauernd zu spät am Ort des Geschehens und konnte nichts mehr tun, als das Unheil zu beheben, das seine eigenen Leute angerichtet hatten, versuchte stets, sie dazu zu bewegen, miteinander statt gegeneinander zu arbeiten, und Poers nannte einen Grund nach dem anderen, warum jeder Versuch des Königs, dauerhaften Frieden zu stiften, scheiterte. Poers beteuerte, dass nicht der König daran die Schuld trug, aber einiges deutete darauf hin, dass er historische Tatsachen verzerrte, um seine Argumente stichhaltig zu machen, und ich sagte, ja, ein König, der seine eigenen Leuten nicht dazu bringen konnte, sich zu benehmen, sei ein schlechter König.
»Nun ja«, murmelte meine Lehrerin, »wenigstens ist er geblieben.«
Der morgendliche Weckruf riss mich aus dem Schlaf.
In folgenden Träumen sprachen wir über die Natur des Menschen im Allgemeinen und meines Onkels im Besonderen. Wir waren nicht immer einer Meinung. Manchmal stimmte ich meiner Lehrerin zunächst nicht zu, überredete mich dann aber doch am Ende selbst zu ihrer Ansicht.
Sie amüsierte sich über mein Interesse an dem System der Kategorisierung der Natur, das der Magus mir beigebracht hatte. Ich erklärte ihr, wie wichtig es sei zu verstehen, wie die Dinge miteinander verbunden waren.
Sie lächelte nur über meinen Ernst und sagte: »Alles ist miteinander verbunden, Häschen, alles mit allem. Wenn ein Mensch versucht, jede Verbindung nachzuzeichnen, Faden um Faden, dann schafft er am Ende nur eine Kopie der Welt und ist ihrem Verständnis kein bisschen näher gekommen.«
Diese Kategorisierung ist ein neuer Gedanke und kommt wohl manchen etwas albern vor. Sie denken, ein Feigenbaum sei ein Feigenbaum, und was müssen sie schon mehr wissen? Ambiades, der weit länger als ich Schüler des Magus war, konnte den Sinn dieses Systems nie einsehen. Der Magus hielt es aber für wichtig, und ich auch.
Der Magus hatte mir seit unserer Trennung sehr gefehlt. Terve war ein gutherziger alter Trunkenbold, und meine Mutter und die Mädchen waren immer bereit gewesen, meinem Geschwätz zu lauschen, aber ich hatte niemanden gehabt, der sich für die Dinge interessierte, über die ich mir Gedanken machte. Hyazinth hatte sich immer die Ohren zugehalten. Es war kein Wunder, dass ich die Arbeit des Magus gegenüber der Lehrerin verteidigte, durch die ich ihn in meinen Träumen ersetzt hatte.
Selbst in den Nebengebäuden des Barons schnappten wir Nachrichten aus der Außenwelt auf. Klatsch strömte so ungehindert wie Wasser aus dem Megaron
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