Die Legenden von Attolia 4: Die Verschwörer (German Edition)
Von da an riefen sie mich manchmal Zec oder Zecush, aber weit öfter einfach »Häschen«. In jener Nacht schlief ich entspannter als zuvor und träumte zum ersten Mal seit meiner Gefangennahme. Ich träumte von einer Bibliothek voller Bücher und Schriftrollen, die auf Regalen aufgereiht und alle von hellem Licht übergossen waren. Als ich die Augen öffnete, war die Baracke um mich herum noch dunkel. Der Weckruf war noch nicht ertönt. Ich lag in der halbdunklen Stille des Morgengrauens, lauschte dem Atmen der schlafenden Männer ringsum und dachte über meinen Traum nach.
Ich war immer noch glücklich. Es war kein Ruhetag. Mir stand ein Tag in der heißen Sonne bevor, Erde und Steine schaufeln bei schmaler Kost in ungebildeter Gesellschaft, und ich war noch nie so im Reinen mit mir gewesen wie jetzt. Ich lachte über mich selbst, als ich mich auf meinem Strohsack in eine bequemere Stellung wälzte, um noch ein paar Minuten zu ruhen. Warten wir ab, wie es ist, wenn ich erst verprügelt werde , dachte ich. Ob es mir dann noch so gut gefällt, Sklave zu sein ? Allzu bald klopfte der Aufseher mit seinem Stock an den Türrahmen, und wir erhoben uns alle murrend für einen weiteren Tag.
Ich war geschickter darin geworden, Erde zu schaufeln. Ich konnte zwar nicht mit allen Männern mithalten, die mit mir aufs Feld gingen, aber doch mit den meisten. Ich arbeitete hart, schlief nachts gut und träumte oft. Ich trauerte, aber ein Teil von mir fühlte sich wie von einer Bürde befreit, die ich mein Leben lang getragen hatte: der, dass ich mich nie als würdig erweisen, dass ich immer jemanden enttäuschen oder versagen würde. Als unbekannter Sklave auf den Feldern des Barons wusste ich, dass das Schlimmste vorbei war. Ich hatte an allen versagt. Wenigstens konnte mir das nicht noch einmal passieren.
Meine Träume waren klar und lebhaft, als hätte die Friedlichkeit meiner Tage meine Einbildungskraft angeregt, und ich träumte wieder und wieder von demselben Ort, der fernen Bibliothek mit ihrer endlosen Sammlung von Büchern und Schriftrollen.
In meinem ersten Traum durchstreifte ich die Bibliothek nur ehrfürchtig und spürte, dass ich unglaublich weit entfernt von der gewöhnlichen Welt von Hanaktos’ Landarbeitern war. Ich befand mich in einem gewaltigen, lichtdurchfluteten Raum, der von Fenstern hoch oben in der Wand dicht unter der weißen Kassettendecke erhellt wurde. In der Nordwand öffneten sich Glastüren auf einen Balkon, der auf ein grünes Tal tief darunter hinausging. Jenseits des Tales lag eine Wand schneebedeckter Berge, deren Gipfel so hell waren, dass ihr Anblick die Augen schmerzen ließ, und hinter ihnen ein noch strahlenderer blauer Himmel, an dem nie auch nur eine einzige Wolke stand.
Innerhalb des Raums befanden sich gegenüber von der Glastür geschnitzte Holztüren, die bei all meinen Besuchen geschlossen blieben. Ich hatte keine Ahnung, was dahinter liegen mochte – wahrscheinlich, weil es mich nicht interessierte. Alles, was ich begehrte, war in dem Zimmer, in dem ich mich bereits aufhielt. Zwischen den Türen und an jeder anderen Wandfläche standen Regale voll von Büchern, Schriftrollen und allen anderen Arten von Schriftgut, sogar Täfelchen, in die winzige Striche eingeritzt waren, von denen ich nicht nur wusste, dass sie eine Schrift waren, sondern die ich dank der Magie der Träume sogar lesen konnte.
Bemalte Säulen trugen die Decke hoch über mir; jede war mit einem eigenen Muster ineinander verschränkter Blätter, Menschen und Tiere geschmückt. Die Figuren kehrten in den geschnitzten Verzierungen der Regale wieder: ein Löwenrudel hier, eine Schar lächelnder Füchse da. Sie zogen meine Berührung an wie ein Magnetstein, und ich fuhr mit den Fingern darüber, während ich mich umsah.
In meinen späteren Träumen ging ich an den Regalen entlang, wählte Bücher und Schriftrollen aus und trug sie zu den Tischen, um mich hineinzuversenken. Es gab Wachs- und Tontäfelchen, in die winzige Buchstaben eingedrückt waren. Es gab Bücher, die ich kannte und schon gelesen hatte, Bücher, von denen der Magus mir erzählt hatte, die ich aber nie mit eigenen Augen gesehen hatte, und sogar Bücher, von denen ich nur wusste, weil ihre Titel in früherer Zeit in Listen festgehalten worden waren. Die verlorenen Theaterstücke des Plax, Dellaris Geschichte des Halbinselkriegs , Herns Gedichte. Sie waren allesamt da.
Und ich hatte auch jemanden, der mich anleitete. Da ich Malatesta immer noch
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