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Die Legenden von Attolia 4: Die Verschwörer (German Edition)

Die Legenden von Attolia 4: Die Verschwörer (German Edition)

Titel: Die Legenden von Attolia 4: Die Verschwörer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Whalen Turner
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ich war dennoch als Erster mit dem Essen an der Reihe.
    Ich schleppte mich durch die nächsten Tage, arbeitete, ruhte mich nachmittags aus und grub dann, bis das Licht vom Himmel schwand. Ich aß und schlief danach traumlos. Langsam wurde ich stärker und war länger wach. Während der Ruhezeiten beobachtete ich die anderen Männer, wie sie in die Baracke herein- und wieder hinausspazierten. Wenn wir vom Feld kamen, begann ich mit ihnen zu warten, bis ich an die Reihe kam, mich am Brunnen zu waschen, statt geradewegs zu meinem Lager aus Decken zu gehen und auf meine nächste Mahlzeit zu warten. Beim Essen war ich immer noch der Erste in der Schlange.
    Jeden Abend sorgten die Männer unter dem wachsamen Blick des Aufsehers für Unterhaltung. Sie sprachen miteinander, bis ein Gedicht oder Lied, das irgendjemand anzubieten hatte, allgemeinen Beifall fand; einer komplizierten Reihenfolge entsprechend, die ich nicht durchschaute, trug jede Nacht ein anderer Mann etwas vor. Manche kannten nur ein Stück, andere hatten mehr zu bieten, und alle achteten stillschweigend darauf, niemanden zu sehr zu beanspruchen, der nur ein beschränktes Repertoire hatte. Als ich eines Abends, die rechte Hand an den Ring in der Wand gekettet, auf meinem Strohsack lag, hörte ich, wie ein Mann auf der anderen Seite des Raums Eacheus’ Schlussrede aus der Eponymias rezitierte.
    Ich hatte vorher nicht recht zugehört, weil ich schon schläfrig gewesen war, als sie angefangen hatten. Ich schlief auch jetzt noch beinahe ein, wurde aber auf einen Fehler aufmerksam: »reuige Chöre« statt »rehäugige Kora«.
    Ohne den Kopf zu heben, rezitierte ich den Vers korrekt, ohne darüber nachzudenken, ob jemand es hörte – oder ob es jemanden kümmern würde, was ich sagte. Unbehagliches Schweigen trat ein, bevor der Sprecher zögernd neu ansetzte, und binnen weniger Verse war ich eingeschlafen. Als ich am Morgen das Essen aus meiner Holzschale in mich hineinschaufelte, bemerkte ich, dass alle den Mann auf dem Strohsack neben mir anstarrten und dass er mich musterte. Ein Kältegefühl breitete sich in meinen Rückenmuskeln aus. Dann sagte der Mann neben mir wie jemand, der sich anspannt, bevor er ins kalte Wasser springt: »Du kennst die Eponymias ?«
    »Wie bitte?«
    »Du hast im Haus gearbeitet? Du kennst die Dichter?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Ein paar«, sagte ich, unsicher, wohin das hier führen sollte. Anscheinend nirgendwohin, da alle sich wieder ihrem Essen zuwandten und im Anschluss daran aufs Feld hinausgingen. Sie redeten untereinander über mich, das merkte ich. Ich fragte mich, ob ich irgendeine Schwäche gezeigt, den Schutz der Unsichtbarkeit verloren hatte.
    An jenem Abend lief es mir kalt über den Rücken, als ich meine Portion Essen erhielt, und es kostete mich all meine Selbstbeherrschung, nicht zu meinem Bett zurückzurennen, um eine Wand im Rücken zu haben. Eugenides würde nicht rennen , rief ich mir ins Gedächtnis. Ich auch nicht.
    Später, als alle gegessen hatten, kam Bewegung in das gegenüberliegende Ende des Raums. Ein schmächtiger Junge, der jüngste in der Baracke, der dennoch pro Schaufel doppelt so viel Erde wie ich bewegen konnte, kam zu mir, hockte sich neben mich und bot mir zögernd sein Brot dar, das er vom Essen aufgehoben hatte. »Hast du irgendetwas aus den Chören der diesjährigen Theaterstücke gehört?«, fragte er.
    Das Essen, das der Baron ausgeben ließ, war ausreichend, jedoch nicht großzügig bemessen, und ich hatte Hunger, aber bei dem Jungen konnte man die Rippen bis hinauf zu den Schlüsselbeinen zählen, und ich schob sein Brot zu ihm zurück. »Ich habe sie alle gehört.«
    Ich rezitierte die Einleitung der Geschichte der Mannae . Alle lauschten hingerissen, sogar der Aufseher. Statt müde zu sein, als ich fertig war, fühlte ich mich wacher als jemals, seit ich gefangen genommen worden war. Die Macht der Dichtkunst, nehme ich an. Also fasste ich die Handlung kurz für sie zusammen und trug Teile der wichtigsten Reden vor. Ich hatte schon früher auf Weinfesten und vor Hauslehrern rezitiert, auch bei Hofe, wenn die Pflicht es erfordert hatte. Ich habe niemals sonst ein derart dankbares Publikum gehabt. Ich hätte die ganze Nacht lang reden können, aber als ich mit den Mannae fertig war, seufzten die Arbeiter glücklich und legten sich schlafen. Ich legte mich ebenfalls hin, blieb aber im ruhigen Dunkel noch ein paar Minuten wach.
    So fand ich meinen Platz in der Reihenfolge und passte

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