Die Leibwächterin (German Edition)
finnlandschwedische Mutter war er vermutlich Lutheraner, hätte einen Verlobungs- oder Ehering also an der linken Hand getragen. Ich musste wieder an den abgeschnittenen Finger meiner Mutter denken und zitterte. In der Hypnose hatte ich so laut geschrien, dass der Hypnotiseur sich gezwungen fühlte, mich zu wecken. Er hatte gesagt, ich sei noch nicht bereit, es sei noch zu früh, die quälenden Erinnerungen auszutreiben. Er hatte mir eine Therapie empfohlen, zu der ich jedoch nicht gegangen war.
Ich nahm Vanillesauce und ein großes Stück Apfelkuchen auf den Löffel. Der Geruch vertrieb den Blutgestank. Stahl sah aus, als sei ihm der Appetit vergangen. Hatte meine Geschichte Paskewitschs Handlanger etwa geschockt? Bestimmt hatte er schon von schlimmeren Gewalttaten gehört, sie vielleicht sogar selbst begangen.
Es war bereits dunkel, der Mond versteckte sich hinter den Wolken. Ich kostete von dem Calvados, dessen sattes Apfelaroma tröstlich wirkte. Auch Stahl trank. In seinem Apfelkuchen stocherte er nur herum.
«Ist dein Vater noch im Gefängnis?»
«Das will ich gar nicht wissen. Wie gesagt, unter den entsprechenden Umständen ist jeder fähig zu töten. Ich schätze meine Freiheit so sehr, dass ich es für besser halte, meinem Vater nicht zu begegnen. Allerdings würde ich ihn wahrscheinlich gar nicht erkennen, wenn er mir über den Weg liefe. Warst du schon mal im Gefängnis?»
Stahl war von meiner Frage sichtlich überrascht. Er setzte zweimal zu einer Antwort an, schloss den Mund aber wieder. Im Radio lief das Leitmotiv von Nino Rotas Romeo und Julia , was mich beinahe zum Lachen gebracht hätte, so weit entfernt war die Liebesgeschichte, die sich vor fünfhundert Jahren in Verona abgespielt hatte, von den beiden Menschen im leeren Gasthof von Kopparnäs.
«Meinst du, ich kenne deinen Vater?», brachte Stahl schließlich hervor. Auf diese Idee war ich gar nicht gekommen, aber als ich jetzt darüber nachdachte, erschien mir auch diese Möglichkeit plausibel. Vielleicht bezog Stahl von zwei Seiten ein Honorar dafür, dass er mich aufspürte.
«Ich denke nie an meinen Vater. Ich habe doch gesagt, für mich ist er gestorben.»
Der Apfelkuchen war mit wunderbar weichem, von Karamellzucker und Zimt braungefärbtem Kompott gefüllt. Die Farbe unterschied sich kaum von dem im eigenen Saft gekochten Raukopf, und ein paar kleine Pilzstücke würden zwischen den weichen Apfelscheiben nicht auffallen. Eigentlich musste ich zur Toilette, aber ich wagte nicht, David Stahl mit meinem Dessert und meinen Getränken allein zu lassen. Da er mit dem Rücken zur Wirtin saß, könnte er unbemerkt K.-o.-Tropfen in mein Glas schütten. Es gab nur eine Möglichkeit: Durchhalten und alles austrinken, bevor ich zur Toilette ging. Das Sektglas hatte ich schon vor dem Essen geleert, nun war der Rotwein an der Reihe. Ich trank einen großen Schluck, spülte dann mit Kaffee nach, in der Hoffnung, der Kaffee würde die Wirkung des Alkohols wenigstens ein bisschen abschwächen.
«Zu deiner Frage: Nein, ich war nie im Gefängnis, niemals, abgesehen von einer Verhaftung in Sankt Petersburg. Aber auch das war ein Missverständnis, und ich wurde schon am nächsten Tag wieder entlassen. Auch ich schätze meine Freiheit. Der Militärdienst hat mir fast den Rest gegeben, ich mag es nicht, herumkommandiert zu werden. Allerdings hatte ich noch Glück, ich war bei den Küstenjägern in Drägsvik, also wenigstens am Meer.»
«Ich habe mich bei der Armee richtig wohl gefühlt.»
«Du warst bei der Armee?»
«Wieso denn nicht?» Ich trank noch mehr Kaffee, obwohl mir die Blase ohnehin bereits platzen wollte. «Das war eine gute Grundlage für die Ausbildung zur Leibwächterin. Und wie gesagt, es hat mir gefallen. Ich habe es bis zum Fähnrich gebracht.»
David lächelte und leerte sein Calvadosglas. Ich schob ihm meines zu.
«Magst du keinen Apfelschnaps?»
«Doch, aber ich bin mit dem Rad gekommen und möchte auf dem Rückweg nicht im Graben landen.»
David nahm einen Schluck aus meinem Glas, an dessen Rand sich mein Lippenstift abgedrückt hatte. «Musst du wirklich nach Hause fahren? In meinem Zimmer stehen zwei Betten, getrennt voneinander. Du kannst gern über Nacht bleiben.»
Ein klein wenig von meinem Lippenstift haftete an Davids Mund. Wenn ich ihn küsste, hätte er Lippenstift im Gesicht, am Kinn, am Hals … Nein, ich lebte mich viel zu intensiv in meine Rolle ein.
«Als Expertin für Sicherheitsfragen wägst du jetzt
Weitere Kostenlose Bücher