Die Leibwächterin (German Edition)
noch, was du vorhin über deinen Vater gesagt hast. Dass er für dich gestorben ist. Wie hast du das gemeint?»
Ich hob das Glas an den Mund und trank. Mochte Stahl es ruhig erfahren, dann würde er mich jedenfalls nicht mehr für ein harmloses Mädchen halten.
«Ich habe ihn das letzte Mal gesehen, als ich vier war, vor fast dreißig Jahren. Wir wohnten damals alle in Lappeenranta. Ich erinnere mich kaum noch an die Stadt, nur an den riesigen See und an die hohen Linden, unter denen meine Mutter mich im Buggy spazieren fuhr. Meine Eltern hatten früh geheiratet, mit knapp zwanzig. Mein Vater war aus Lappeenranta, meine Mutter aus Tuusniemi, sie haben sich bei der Danny-Show auf dem Tanzboden in Iloharju kennengelernt. Mutter studierte damals in Joensuu, sie wollte Lehrerin werden, und Vater war in Rissala bei der Armee. Nach dem Wehrdienst zogen sie nach Lappeenranta, wo mein Vater eine Stelle als Elektriker bekommen hatte. Mutter hatte wohl vor, irgendwann weiterzustudieren. Aber dazu kam es nicht.»
Die Bilder flimmerten durch meinen Kopf, doch ich hätte im Nachhinein nicht sagen können, mit welchen Worten ich sie Stahl beschrieben hatte. Die Erinnerungen waren zu schwer. Es wurde oft geschrien. Mutter und ich waren allein, Vater trieb sich herum, und Mutter wurde das Warten offenbar langweilig, denn sie gab mich immer öfter bei der Nachbarin in Pflege. Ich kannte die Wahrheit nicht, wusste nicht, ob meine Mutter wirklich einen anderen gehabt hatte oder ob mein Vater sich das nur einbildete. Aber ich erinnerte mich an den schicksalhaften Tag, als Mutter und ich nach Hause kamen. Im Flur war es dunkel. Ein süßlicher Geruch, Vater torkelte uns entgegen. Wieder Gebrüll, schlimme Worte. Hure Hure Hure. Vater riss mich aus Mutters Armen, dem Kind will ich nicht wehtun, aber du Schlampe kriegst, was du verdienst. Ich auf dem Fußboden, überall war es rot. Mutter hörte auf zu schreien, sie lag auf dem Boden und griff nach mir, aber ich kroch weg, laufen konnte ich nicht mehr. Mutters feiner Ring mit dem funkelnden Stein steckte nicht mehr an ihrer Hand, weil der ganze Finger ab war, meine Mutter hatte an einer Hand zu wenig Finger. Sie bewegte sich nicht mehr. Vater wiegte die rote Masse in den Armen, weinte und bat um Verzeihung. Ich hatte mich unter dem Bett versteckt, mit nasser Hose, dabei brauchte ich schon seit Jahren keine Windeln mehr. Am Arm hatte ich einen roten Fleck von Mutters klebriger Flüssigkeit. Dann klopften die Nachbarn, ein großer Mann in einer dunklen Jacke mit kalt glänzenden Knöpfen kam herein. Ein weißes Bett und am nächsten Morgen neben dem Bett meine Großmutter, die abwechselnd weinte und tobte, all die Tage lang, die ich bei ihr verbrachte, bis auch sie weggebracht wurde, ins Krankenhaus.
«Meine Mutter hatte fünfunddreißig Stichwunden. Vater bekam ‹lebenslänglich›. Als erschwerender Umstand galt, dass ich alles mit angesehen hatte.»
Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass das Dessert serviert worden war. Gerade noch hatte ich geglaubt, das Blut zu riechen, nun stieg mir das Aroma von Vanillesauce und starkem Kaffee in die Nase. Die Wirtin hatte sich auf ihren Posten hinter der Theke zurückgezogen, aber ich sah, dass sie uns zuhörte. Sie war alt genug, sich an die Bluttat in Lappeenranta zu erinnern. Neunzehnhundertachtzig hatte es nur eine Boulevardzeitung gegeben, bei der schon damals der legendäre Kriminalreporter Markkula arbeitete. Er hatte den Fall genau dokumentiert und ihn später auch in seinem Buch Der finnische Mord beschrieben, doch ich hatte es nie über mich gebracht, die Dokumentation zu lesen.
Stahl ergriff meine Hand.
«Eine furchtbare Geschichte.»
«In mir fließt das Blut meines Vaters. Ich wäre auch zu so etwas fähig.» Ich zog meine Hand nicht weg, sondern drückte Stahls Hand so fest, dass es wehtun musste.
«Zu töten?»
«Unter den entsprechenden Umständen ist jeder dazu fähig.» Ich drückte noch fester, und Stahl erwiderte den Druck mit solcher Kraft, dass ich fürchtete, meine Handknochen würden brechen. Dennoch gab ich keinen Mucks von mir.
«Meinst du mit den entsprechenden Umständen zum Beispiel eine höhere Summe Geld?»
Ich nickte. «Zum Beispiel. Bei manchen ist es auch der Wille, jemanden zu verteidigen. Viele Mütter haben mir gesagt, sie würden notfalls töten, um ihr Kind zu schützen.»
Stahl lockerte seinen Griff, ich zog meine Hand aus seiner, die warm und leicht gerötet war. Er trug keinen Ring. Durch seine
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