Die Leibwächterin (German Edition)
dauerte die Fahrt nach Kirkkonummi nur eine Viertelstunde. Von der Haltestelle an der Hauptstraße nach Hanko ging ich zu Fuß ins Zentrum. Dort erstand ich ein neues Handy und einige Prepaid-Anschlüsse. Ich ließ mir eine neue Telefonnummer geben, die ich nur den wenigen Menschen mitteilen wollte, denen ich vertraute. Ob ich es wagen durfte, meine Mitbewohnerinnen in Helsinki zu den Vertrauenswürdigen zu zählen, wusste ich nicht; womöglich würden sie mit Gewalt gezwungen werden, die Nummer weiterzugeben. Vielleicht wurde es Zeit, die Wohnung zu wechseln oder mir als Ersatz für das Sommerhaus ein zweites Untermieterzimmer zu suchen.
Aus dem Handyladen ging ich in die Bibliothek nebenan, wo ich im Voraus einen Computerarbeitsplatz reserviert hatte. Es war ruhig dort, nur einige Rentner lasen Zeitung, und ein Hippie suchte nach CDs. Ich öffnete meine Mailbox, doch sie enthielt hauptsächlich Spam, außerdem ein Rundschreiben meines amerikanischen Kurskollegen Jim Parsley, der mitteilte, er sei Sicherheitschef einer großen Bank geworden, zu einem Monatsgehalt, für das ich zwei Jahre hätte arbeiten müssen. Schließlich entdeckte ich noch eine wütende Mail von Hauptmeister Laitio. Er forderte mich auf, mich unverzüglich bei ihm zu melden, telefonisch, per E-Mail, brieflich oder in Person. Ich las die Mail mit halber Aufmerksamkeit und löschte sie. Laitio war meine geringste Sorge.
Auf den russischen Internetseiten suchte ich nach weiteren Informationen über den Mord an Anita, fand aber nichts Neues. Ganz offensichtlich hatte man in Moskau beschlossen, den Fall unter den Teppich zu kehren. Wie viele Menschen hatte Paskewitsch wohl bestechen müssen, damit seine Inszenierung durchging? Wenn der Obdachlose nicht als Täter akzeptiert worden wäre, hätte wahrscheinlich ich den Sündenbock abgeben sollen, deshalb hatte man mir Anitas Tuch untergeschoben. Vielleicht hatte man mich nur betäubt, um das Tuch bei mir zu deponieren, und nicht, weil man annahm, ich könnte Anitas Tod verhindern. Man hatte sich ja keine große Mühe zu geben brauchen, um mich aus dem Spiel zu ziehen. Selbst wenn ich Anita nichts angetan hatte, war ich mitschuldig, und der Fall konnte jederzeit wiederaufgerollt werden, wenn jemand es verlangte, der einflussreich genug war. Laitios Prestige würde dafür zwar nicht reichen, vielleicht nicht einmal das des finnischen Ministerpräsidenten, aber ich durfte mich keinesfalls in der Gewissheit wiegen, nicht mehr unter Verdacht zu stehen.
Um mich auf das Treffen mit Helena Lehmusvuo vorzubereiten, suchte ich im Internet nach Informationen über sie. Als Abgeordnete der Grünen saß sie schon ewig lange im Parlament, seit 1995. Sie war zweiundvierzig und hatte einen etwa zwanzigjährigen Sohn aus der Ehe mit einem Kommilitonen, die nicht lange gehalten hatte. Den Grünen hatte sie sich während des Studiums angeschlossen; ihr Hauptfach war Volkswirtschaftslehre gewesen, und in diesem Fach hatte sie neben ihrer Parlamentstätigkeit vor einigen Jahren promoviert. Sie war Fraktionsvorsitzende und stellvertretende Parteivorsitzende der Grünen, hatte bisher aber noch keinen Ministerposten erhalten. Anfang dieses Jahres war sie von Espoo nach Kirkkonummi gezogen. Mit ihren kritischen Äußerungen hatte sie sowohl führende Unternehmer als auch Gurus der finnischen Russlandpolitik verärgert. In den Presseberichten wurde nicht erwähnt, ob sie derzeit einen Lebensgefährten hatte. Auch die Webseite des Parlaments gab darüber keine Auskunft. Dafür fand ich dort Lehmusvuos Kolumnen, Reden und Essays. Das Thema ihrer Doktorarbeit war die Auswirkung des Zusammenbruchs der Sowjetunion auf die finnische Volkswirtschaft, und in ihren neuesten Essays erörterte sie unter anderem die Frage, wie der Immobilienerwerb durch russische Bürger die Grundbesitzverhältnisse in Finnland veränderte. Ich stellte fest, dass sie für einen der Essays auch Anita interviewt hatte. Das war vor meiner Zeit gewesen.
Als Nächstes gab ich den Namen David Stahl ins Suchfeld ein und bekam sechsundzwanzigtausendfünfhundert Treffer. Ich beschäftigte mich eine Weile mit ihnen, musste aber feststellen, dass der Mann, der mich am Abend zuvor geküsst hatte, im Internet offenbar nicht existierte. Stahl hatte gesagt, er sei Unternehmensberater in der Baubranche, was ungefähr alles bedeuten konnte. Seine Personalpapiere hatte ich nicht gesehen, es war ja nicht üblich, neue Bekannte nach ihrem Pass zu fragen. Natürlich
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