Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
Führungscrew doch weiterhin damit klarkommen, ihre heutige Stellung auf die Ermordung soundsovieler Unschuldiger aufgebaut zu haben. Was ging ihn, Herrn Schweitzer, das an? Und außerdem, welcher Konzern, dessen Wurzeln bis ins Dritte Reich und darüber hinaus zurückreichten, hatte keinen Dreck am Stecken? Und sei es nur durch die Beschäftigung von Zwangsarbeitern. Sollte die Gerechtigkeit doch ohne ihn auskommen. Und trotzdem, Genugtuung würde er schon verspüren, sollte er je in die Lage versetzt sein, der Gerechtigkeit zu ihrem Ziel zu verhelfen. Die Uhr schlug neun. Er hängte noch fünfzehn Minuten dran.
Bedächtig erhob er sich, warf noch einen letzten Blick durch die gläserne Drehtür und ging zum Aufzug.
Maria wußte auch so, was los war. Ihr in sich gekehrter Freund stand mit dem Rücken zu ihr an der Balkonbrüstung. Seine Hände umklammerten das Geländer, und den Kopf hatte er in den Nacken geworfen.
Herr Schweitzer betrachtete den Sternenhimmel. Der Mensch würde sowieso bald Geschichte sein, wenn er seinen Umgang mit der Natur nicht änderte, dachte er. Dann würden wieder Tiere die Welt bevölkern und zwischen Betonruinen und rissigen Asphaltbändern auf Futtersuche gehen, aus geborstenen Fensterscheiben üppiges Grün wuchern, und hier und dort von Moos bewachsene menschliche Skelette daran erinnern, daß es einst eine ganz, ganz kurze Zeitspanne gegeben hatte, in der die Evolution ein einzigartiges, aber erfolgloses Projekt ausprobiert hatte. Niemand wäre mehr da, der all das von Menschen gesammelte Wissen in den zusammengestürzten Bibliotheken und Datenzentren zum Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung würde nutzen können. Und es wird herzlich egal sein, wer wem wann und vor allem warum welches Leid zufügte. Bücherwürmer und Schimmelpilze werden sich durch all die Goethes, Grillparzers und Kollegen fressen. Und es wird ihnen scheißegal sein, daß der Lebensmittelkonzern Heidenbrück im Jahre 2005 bei einer Vorstandssitzung beschlossen hatte, 350 Mitarbeiter in Europa zu entlassen, um sich mal wieder an der Börse positiv ins Gespräch zu bringen, und ein paar Vorstandsmitglieder sich auf die kurzfristig steigende Aktienkurse einen runterholen.
Herr Schweitzer war so hingebungsvoll mit diesem tröstlichen Zukunftsszenarium beschäftigt, daß er gar nicht merkte, wie er angesprochen wurde. Erst als Marias Flüstern immer eindringlicher wurde, registrierte er, daß mit „huhu, Simon, mein Schatz“ nur er selbst gemeint sein konnte. Die Sterne verschwammen zu einer milchigen Straße, sein Blick verweilte noch kurz bei den Positionslichtern der draußen vor Anker liegenden Schiffe, dann drehte er sich zu Maria um.
Sanftes Meeresrauschen begleitete ihre Worte: „Schatz, da ist Besuch für dich.“
„Besuch für mich?“
„Ja, Frau Silbermann.“ Maria zwinkerte ihm zu. „Sie sitzt auf der Couch und will mit dir reden. Ich gehe dann mal runter an die Bar, du kannst ja später kommen, wenn ihr fertig seid.“
Wortlos folgte er ihr ins Zimmer. „Ah, Frau Silbermann, schön, daß Sie doch noch gekommen sind. Ich hatte mich schon damit abgefunden, Sie nie wieder zu sehen.“
„Ich habe auch lange mit mir gekämpft.“
„Das ist übrigens Maria, meine Freundin.“
„Ja, Simon, wir haben uns schon miteinander bekannt gemacht. Ich warte an der Bar auf dich.“ Maria schnappte sich ihr Buch und verschwand.
„Möchten Sie etwas trinken? Bier, Wasser, Orangensaft ist im Kühlschrank. Ich kann auch den Zimmerservice anrufen.“
„Orangensaft ist gut.“ Frau Silbermann strich eine Falte aus ihrem geblümten Sommerkleid. Die Handtasche lag auf ihrem Schoß.
Herr Schweitzer füllte zwei Gläser, stellte sie auf den Glastisch und setzte sich ihr gegenüber auf den Sessel.
„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist alles schon so lange her. Fünfzig Jahre, um genau zu sein. Das war, als meine Schwester Rahel uns das erste und einzige Mal besuchen kam. Na ja, besuchen ist vielleicht das falsche Wort. Zur Rede stellen, das trifft die Sache wohl besser.“
Herrn Schweitzer war es nicht verborgen geblieben, daß Frau Silbermann einen Teil ihrer Selbstsicherheit eingebüßt hatte. Ihre Augen vermieden den direkten Blickkontakt und irrten im Raum umher. „Vielleicht hilft es, wenn ich Ihnen erzähle, was Esther und ich bisher herausgefunden haben. Das ist zwar nicht sonderlich viel, aber genug, um zu der Schlußfolgerung zu gelangen, daß Joshua Silbermann nicht Joshua
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