Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
lag auf seiner Zunge, dann verschwand sie wieder. Irgendwo mußte ein Faktor versteckt sein, den er bisher noch nicht bedacht hatte. Automatisch schoben seine Hände die Papiere auf dem Tisch auseinander.
„Heiß.“
Nach der Stille kam ihre Stimme so überraschend, daß Herr Schweitzer zusammenzuckte. Im ersten Moment wußte er nicht, was sie meinte, und bezog ihre Aussage sogar aufs Wetter, was aber nicht sein konnte, denn die Raumtemperatur wurde durch eine Klimaanlage geregelt. „Heiß?“
„Ja, Sie haben gerade den anderen Peter Söhnle berührt.“
„Ich habe was?“ Benommen schaute er sich die Dokumente an. Und dann erinnerte er sich eines Gedankens, der ihm bekannt vorkam, den er schon einmal gedacht haben mußte. Und dann hielt er sie in den Händen. Die letzte Seite der Deportationsliste. Die Seite, die für Rahel zu kopieren am wenigsten Sinn ergab, es sei denn … „Ja, ich verstehe.“ Diesmal waren Herrn Schweitzers Gedanken schneller als seine Worte. Doch viel Zeit verging nicht: „Peter Söhnle hat die Deportationsliste unterschrieben. Er war dabei, als man ihren Mann deportierte. Er hat Sie gerettet und gleichzeitig Ihren Mann in den Tod geschickt.“
„Nicht gleichzeitig. Es lagen drei Jahre dazwischen. Ich wußte nichts davon. Rahel hat es später mit ihren Nachforschungen herausgefunden.“
„Und trotzdem haben Sie Peter Söhnle in Tel Aviv empfangen. Sie müssen zugeben, das klingt merkwürdig.“
Verlegen spielte Miriam Silbermann mit ihrem Armreif. „Sie denken wie alle anderen, die den Krieg nicht miterlebt haben.“
„Und wie denken die?“
„In Schubladen. Dort die Guten, da die Bösen. Schublade auf, Schublade zu, fertig. Aber so einfach ist das nicht. Sehen Sie, ich habe mich viele Jahre mit dem Thema beschäftigt, und, glauben Sie mir, kein Buch und kein Film ist dem je gerecht geworden. Der Mensch war damals nicht anders als heute. Diejenigen, die man laut Staatsdoktrin hassen sollte, bekommen in dem Moment menschliche Züge, in dem man sie persönlich kennenlernt. So ist das immer. Auch in Israel gibt es Ausländerhaß. Jemand muß ja schließlich an allem Schuld sein. Und Peter Söhnle war auch nur ein Mensch, hatte Familie und kämpfte ums Überleben. Sein Pech war eben, daß er für die Deportationslisten verantwortlich war. Er wurde deswegen auch von den Amis vernommen. Aber mir hat er gestanden, daß er genau wußte, was mit den Juden geschehen sollte. Die meisten wußten es. Erst durch Rahel habe ich erfahren, daß er es war, der die Liste unterschrieben hat.“
„Haben Sie Peter Söhnle je damit konfrontiert?“
„Ich habe mit dem Gedanken gespielt. Ich glaube nicht, daß er je erfahren hat, daß mein Mann unter den Deportierten war. Nein, ich habe es ihm nie gesagt. Warum auch? Im Oktober 1942 kannten wir uns ja noch nicht. Kann sein, daß Hermann ihn mal erwähnte, aber ich erinnere mich nicht. Trotz unserer Beziehung lebten Hermann und ich in völlig unterschiedlichen Welten. Wir konnten uns nicht zusammen in der Öffentlichkeit blicken lassen, haben uns immer nur heimlich getroffen. Nur zu zweit, ganz alleine. Ich glaube, Peter Söhnle hat erst von Hermanns Liaison mit mir erfahren, als er mich versteckt hat, und das, obwohl sie die besten Freunde waren. Und eins dürfen Sie nie vergessen, Herr Schweitzer, er war es, der mir das Leben gerettet hat. Egal, was er sonst noch getan hat, ich stand in seiner Schuld.“
Er legte die Deportationsliste auf den Tisch zurück. Herr Schweitzer hätte jetzt fragen können, wie es kam, daß sich zwei Menschen so unterschiedlichen Bildungsniveaus ineinander verlieben konnten, aber er tat es nicht. Erschöpft lehnte er sich zurück. Am liebsten hätte er sich schlafen gelegt. Oder mit Maria geredet. Bestimmt fragte sie sich schon, was sie so lange zu bereden hatten. Kurz dachte er an Esther. Was sollte er ihr sagen, wenn er zurück war? Herr Schweitzer raffte sich noch einmal auf, suchte das Foto mit Bauers Möbelwagen heraus und überreichte es Frau Silbermann. „Der Mann in der Mitte.“
Minutenlang starrte sie auf die Fotografie. Zum Schluß zitterte sie am ganzen Körper. Herrn Schweitzer blieb keine Zeit einzugreifen, als Miriam Silbermann es in Fetzen riß. Einige Sekunden vergingen, erst dann drang es in sein Bewußtsein, daß es ja bloß eine Kopie war. Das Original war bei Esther in Berlin.
„Es ist allein meine Schuld“, stieß Frau Silbermann unter Tränen hervor.
Er fühlte sich verloren, wußte
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