Die Leiche am Fluß
Sie ins Röhrchen blasen müssen.»
«Nein», räumte Morse ein.
«Wissen Sie denn, wann Sie genug haben?»
«Nicht immer.»
«Haben Sie jetzt genug?»
«Fast.»
«Wenn Sie wollen, geb ich uns noch ‘ne Runde aus.»
«Also in neunzehn von zwanzig Fällen... Aber ich muß Sie noch nach Hause fahren und dann Sergeant Lewis seine nächste Musikstunde geben...»
«Und was heißt dieses Wischiwaschi im Klartext?»
«Also meinetwegen: ein Pint Best Bitter, wenn Sie drauf bestehen.»
«Würden Sie mir auch mal eine Musikstunde geben?» fragte sie, als der Jaguar nach einem Ampelhalt an der Longwall Street über die Magdalen Bridge rollte.
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Darf ich ehrlich sein?»
«Bloß keine Hemmungen.»
«Weil mich die Nasenringe stören.»
Die Antwort war wie eine Ohrfeige, und hätte der Wagen noch an der Kreuzung gestanden, wäre sie einfach ausgestiegen. Aber sie fuhren jetzt ziemlich schnell die Iffley Road hinauf, und bis sie in die Princess Street kamen, hatte sich ihre erste Wut gelegt.
«Sie können Ihrem Sergeant was von mir ausrichten...»
«Die Ermittlungen leite immer noch ich», sagte Morse ziemlich scharf.
«Was Sie nicht sagen! Dabei haben Sie vorhin den Mund nicht aufgekriegt.»
«Aber am Telefon. Wissen Sie noch?»
«Ja, das war ‘n Spaß...» Aber er hatte ihr doch den Wind aus den Segeln genommen. Im Pub hatte er sie nie direkt angeschaut, und jetzt wußte sie, warum. Er war ganz anders als die anderen Männer seines Alters, die sie so kannte. Du siehst die Menschen mit Augen an, die interessiert und interessant zugleich sind, hatte Felix einmal zu ihr gesagt, und das hatte sie nie vergessen, es war das schönste Kompliment, das man ihr je gemacht hatte. Aber dieser Morse hatte ihr nicht in die Augen gesehen, sondern die meiste Zeit nur in sein Bier geglotzt.
Was soll’s. Scheißbullen... «Also schön, etwas für Sie oder Ihren Sergeant, okay? Wegen Mittwoch... Ich war in einer Abtreibungsklinik. Zu einem Beratungsgespräch. Aber ich laß es mir nicht wegmachen. Diesmal nicht, okay? Und wegen gestern abend... da war ich mit Ashley aus — Ashley Davies — , und der hat mir einen Heiratsantrag gemacht. Er nimmt mich auch mit Nasenringen. Okay?»
Sie riß die Beifahrertür auf, sprang aus dem Wagen und knallte sie so heftig zu, daß Morse Angst um die vorelektronische Verriegelung des Jaguar haben mußte.
«Und Ihren Scheißmozart können Sie sich sonstwohin stecken, okay?»
44
Der Schlaf ist keine geringe Kunst;
man muß sich den ganzen Tag dafür wachhalten.
(Friedrich Nietzsche)
Zuweilen wird — nicht ohne Grund — behauptet, daß es so etwas wie Schlaflosigkeit gar nicht gibt, daß jemand, der nicht einschlafen kann, eigentlich keinen Schlaf braucht. Allerdings hätten einige der Personen, von denen auf diesen Seiten die Rede ist, diese These in der Nacht zum Freitag, dem 9. September, vermutlich lebhaft bestritten.
Chief Inspector Morse hatte zwar sehr selten Einschlafschwierigkeiten, wachte jedoch häufig gegen Morgen auf, weil er auf die Toilette mußte oder Durst hatte, den er dann mit Wasser löschte (was ihm tagsüber nie eingefallen wäre). Aber auch für Morse war Schlaf ein wichtiges Thema, zu dem etliche Rudimente aus der griechischen Dichtung in der Rumpelkammer seines Gedächtnisses lagerten. Hätte er die gesamte Dichtung des Altertums bis auf eine einzige Passage über Bord werfen müssen, hätte er sich vermutlich dafür entschieden, die Szene aus dem 16. Gesang der Ilias zu behalten, die den Tod des Sarpedon schildert und wie die Zwillingsbrüder Schlaf und Tod den verstorbenen Helden in Lykiens weites, blühendes Land tragen. Und an zweiter Stelle die Worte des würdigen Sokrates, als er sich anschickte, den Schierlingsbecher zu leeren, daß wenn der Tod nur ein langer, traumloser Schlaf sei, die Sterblichen nichts zu fürchten hätten.
In jener Nacht aber hatte Morse einen lebhaften Traum. Er träumte, er spiele in einer Jazzband Saxophon. Träumend überlegte er, wo er sich die beachtliche Fertigkeit in dieser Kunst wohl angeeignet hatte, und wurde von der Angst geplagt, sie könne ihm unversehens wieder abhanden kommen, während seine Zuhörer noch bewundernd zu ihm aufsahen, unter ihnen auch eine junge Frau mit Nasenringen. Diese junge Frau aber konnte nicht Eleanor Smith sein, denn die Traumfrau war entstellt und häßlich, Eleanor Smith dagegen...
Julia Stevens wälzte sich unruhig im Bett und drehte immer wieder das
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