Die Leiche am Fluß
angst. Es war so, als wenn man eine Gruppe von Rabauken bei der Polizei anzeigt, die danach erst recht alles kurz und klein schlagen. Und in ihrem Fall — Susan war intelligent genug, das zu begreifen — war das Risiko beträchtlich höher, denn es ging schließlich nicht um Vandalismus, sondern um Mord. Eine vollständige (wenn auch im Rahmen des Möglichen zurückhaltende) Aussage blieb ihr wohl nicht erspart, aber es war nicht auszuschließen, daß ihr daraufhin der Mann, der nach der ziemlich einhelligen Ansicht aller, die ihn kannten, ein ganz übler Kunde war, mit Racheakten, vielleicht mit körperlicher Gewalt drohen würde.
Als sie wieder im Bett lag, versuchte es Susan mit einem Trick, der ihr einmal empfohlen worden war: Mach ganz langsam (ja, langsam) die Augen zu und schau fest (ja, schau) auf einen zehn, zwölf Zentimeter entfernten Punkt.
Dieses Fixieren eines gedachten Punktes soll die Augäpfel ruhigstellen, deren rasches Hin- und Herbewegen nach neuesten Erkenntnissen eine der Hauptursachen der Schlaflosigkeit ist.
In dieser Nacht hatte Susan Ewers mit diesem Kunstgriff zwar nur wenig Glück, doch erwiesen sich ihre Ängste als unbegründet. Weder Susan noch sonst jemand hatte von Edward Brooks fürderhin etwas zu fürchten. Einer der Zwillingsbrüder — der, den sie Tod nannten — hatte sein Recht auf ihn geltend gemacht und ihn zusammen mit seinem Bruder Schlaf davongetragen — wenn auch vielleicht nicht in das schöne, blühende Land Lykiens, in dem Sarpedon ruht.
45
Wachet auch sorgsam über sittliche Entgleisungen Eurer Patienten, die sie veranlassen könnten, die Unwahrheit über ihnen Verschriebenes — und Vorgeschriebenes — zu sagen.
(Corpus Hippocraticum)
Bei einer Mordermittlung kann eine Woche — besonders eine Woche, in der praktisch keine Fortschritte zu verzeichnen sind — recht beschwerlich sein. Das bekam Sergeant Lewis in den Tagen zwischen Freitag, dem 9., und Freitag, dem 16. September, zu spüren.
Wo sich die Schlüsselfiguren im Pitt Rivers-Fall insbesondere am Abend und in der Nacht des 7. September, unmittelbar nach dem Diebstahl des Messers, aufgehalten und was sie im einzelnen getrieben hatten, stand inzwischen fest, die entsprechenden Aussagen waren aufgenommen und (nach Korrektur der ärgsten Rechtschreibfehler) unterschrieben und abgelegt worden. Sonst hatte sich nichts getan.
Vom Tatort nichts Neues. Die Haus-zu-Haus-Befragungen in der Daventry Avenue hatte die Polizei ohne Ergebnis eingestellt. Ohne größere Schwierigkeiten hatte sie drei frühere Studenten von Aufgang G des Drinkwater Quad ausfindig gemacht, doch diese Entdeckung hatte sie nicht wesentlich weitergebracht, denn die drei hatten zwar bestätigt, daß es während ihres Studiums kein Problem gewesen war, an Drogen heranzukommen, aber von Drogenhandel auf ihrem Aufgang wußten sie angeblich nichts.
Was Lewis ein wenig verwirrte, war die Tatsache, daß für Morse das Verschwinden des Messers offenbar das gleiche Gewicht hatte wie der Tod eines Hochschullehrers — so als sei der Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorkommnissen nicht nur logisch zwingend, sondern auch völlig eindeutig.
Am Donnerstag, dem 15. September, hatte er seine Zweifel nicht mehr für sich behalten können.
«Die einzige echte Verbindung ist doch eigentlich Brooks, Sir. Er ist Ihr Haupt verdächtiger in dem Mordfall und hat einen Job im Pitt Rivers.»
«Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, Lewis, daß womöglich Brooks das Messer gestohlen hat?»
«Das kann nicht Ihr Emst sein.»
«Ist es auch nicht. Reden Sie nur weiter, Lewis!»
«Sie haben ja selbst gesagt, daß wir es häufig mit Nachahmungstätern zu tun haben. Es kann doch sein, daß der Messerdieb überhaupt nichts mit dem Mord zu tun hatte, sondern nur zufällig die Meldung in der Oxford Mail gelesen hat und...»
«Also ehrlich gesagt — in diese Richtung habe ich auch schon gedacht.»
«Es könnte natürlich Zufall sein.»
«Ja, durchaus.»
«Sie sagen doch immer, daß Zufälle an der Tagesordnung sind und manch einer sie bloß nicht sieht.»
«Allerdings...»
«Es gibt also womöglich gar keinen kausalen Zusammenhang...»
«Hören Sie auf, wie ein Philosoph daherzureden, Lewis, und holen Sie uns lieber einen Kaffee.»
Auch für Morse war die erzwungene Untätigkeit frustrierend. Außerdem stand er stark unter Stress, da er seit drei Tagen keine Zigarette mehr geraucht hatte. Er befand sich in der entscheidenden Phase, in der er seine
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