Die Leichenstadt
Hand gegen die Lippen gedrückt und hielt ihren Körper in Höhe der Hüfte mit dem linken Arm umklammert.
Die Schwester zappelte in seinem Griff. Sie würgte auch, trat sogar, und Suko mußte grinsen, weil die ehrwürdige Nonne ganz schön wütend werden konnte.
Er brachte seinen Mund dicht an ihr Ohr, was gar nicht so einfach war, denn die Haube befand sich im Weg. »Seien Sie doch vernünftig, Schwester. Sie müssen jetzt die Nerven behalten. Bitte keinen Schrei, der die anderen alarmiert. Denken Sie an die Gefahr, in die Sie alle anderen bringen können.«
Schwester Bonifatia schien die eindringlich gesprochenen Worte des Inspektors verstanden zu haben, denn sie stoppte ihre wilden Befreiungs-Bemühungen.
Suko ließ die Frau los. Sie rang nach Luft, hatte einen roten Kopf bekommen und schüttelte sich. »Tut mir leid, Inspektor, ich habe für einen Moment die Nerven verloren, das sollte mir nicht passieren.«
Suko winkte ab. »Dafür brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Sie haben auf dieses schreckliche Bild normal reagiert, hätte mich gewundert, wenn es anders gewesen wäre.«
Die Schwester nickte. »Teufelswerk!« flüsterte sie. »Ich bleibe dabei, es ist Teufelswerk.«
»Wenn Sie so wollen, aber bleiben Sie in Nähe der Tür stehen.«
»Und Sie?«
Suko lächelte knapp. »Ich schaue mir die Sache mal an.«
Schwester Bonifatia schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht machen, Inspektor, Sie sind schutzlos…«
»Trennen Sie sich von Ihrem Kreuz?«
»Ungern…«
»Machen Sie bei mir bitte die Ausnahme.«
Sie hob die Schultern. »Wenn Sie meinen, Inspektor, daß Sie besser zurechtkommen?«
»Ich hoffe es zumindest.« Suko schaute zu, wie die Schwester das schmale Band, an dem das Kreuz hing, über ihren Kopf streifte. Die Haube verrutschte dabei ein wenig.
Mit einem dankbaren Kopfnicken nahm der Chinese das Kreuz entgegen. Es bestand aus Holz, war sehr schlicht, aber in dieser Form bestach es.
Das Mädchen lag noch immer auf dem Bett. Eigentlich konnte man von einem Menschen nicht sprechen, denn menschlich war nur der Kopf der kleinen Jennifer, der übrige Körper bestand aus hellen Spinnen, die nie ruhig sein konnten.
Auch Suko war nicht wohl, als er dem Bett entgegenschritt. Er schluckte ein paarmal. Dieses Bild erschütterte ihn gerade deshalb, weil er ein Kind vor sich liegen hatte.
Es schien keinerlei Schmerzen zu verspüren. Das Gesicht war glatt, die Augen groß, sie schauten den herankommenden Insepktor ohne Furcht an. In ihnen wechselte der Ausdruck auch nicht, als Suko das Kreuz so hielt, daß Jennifer es sehen mußte.
Hatte sie keine Angst davor?
Neben dem Bett blieb Suko stehen. Die Spinnen griffen ihn nicht an. Sie befanden sich nur in permanenter Bewegung.
»Jennifer«, flüsterte Suko und beugte sich mit dem Kreuz in der Hand vor. »Kannst du mich hören?«
»Ja…«
»Die Spinnen sind da, nicht?«
»Ja…«
Sie gab sich sehr einsilbig, und Suko glaubte nicht, daß er noch mehr aus ihr herausfinden konnte, aber er versuchte es trotzdem und fragte weiter.
»Siehst du das Kreuz?«
Diesmal schwieg sie, und Suko probierte es einfach. Er legte das kleine Holzkreuz auf das Gesicht des Mädchens.
Spannende Sekunden vergingen. Jennifer rührte sich nicht. Sie lag still, auch die hellen Spinnenkörper schienen eingefroren zu sein. Dann jedoch verzerrte sich das Gesicht des Mädchens, ein Stromstoß schien es zu schütteln, und Suko hörte den erschreckten Ruf der Schwester hinter sich.
Da sah er es selbst.
Jennifer verwandelte sich wieder zurück. Aus den Spinnen wurde ein Körper. Die Haut erschien wieder, sogar die Nägel wuchsen nach, und vor dem staunenden Suko lag ein Mädchen, das völlig normal war und ihn anschaute.
Der Chinese schritt zurück. Er schluckte. Himmel, das hatte er noch nie erlebt. Er nahm das Kreuz wieder an sich und drehte sich um. Leichenblaß stand Schwester Bonifatia an der Tür. Sie konnte es noch immer nicht begreifen, was dort im Bett vorgefallen war, und sie fragte:
»Ist das wirklich Jennifer?«
»Ja.«
»Aber wie ist es möglich?«
Suko hob die Schultern. »Ich kann Ihnen keine Antwort geben, Schwester.« Dafür gab er ihr das Kreuz zurück.
Die Frau umklammerte es, als wäre es der letzte Rettungsanker. Sie hatte den Mund geöffnet, wollte sprechen, doch sie brachte keinen Ton über die Lippen.
Alles war zu schrecklich, zu unbegreiflich… »Was können wir denn machen?« wollte sie wissen und sprach dabei mit leiser
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