Die Leichenstadt
Stimme.
»Abwarten.«
»Auf was warten?«
Suko hob die Schultern. »Jennifer ist nicht mehr normal, das müssen wir festhalten. Da ist irgend etwas passiert. Aber was, das wissen wir leider nicht. Aber wie ich die Sachlage einschätze, hängt es mit ihren Eltern und dieser geheimnisvollen Leichenstadt zusammen, die wir finden müssen.«
»Was meinen Sie mit Leichenstadt?«
»Wenn ich das genau wüßte, wäre mir wohler«, erklärte der Inspektor.
»Ich kann es…« Er sprach nicht mehr weiter, denn Jenny richtete sich plötzlich auf.
»Da!« Die Schwester faßte nach dem Arm des Chinesen. »Was hat das zu bedeuten?«
»Werden wir gleich wissen.«
»Die will doch nicht weg? Jetzt steigt sie sogar aus dem Bett.« Die Stimme der Frau zitterte.
Suko nickte. In der Tat schwang Jennifer ihre schmalen Beine aus dem Bett, blieb für einen Moment auf der Kante sitzen und richtete sich dann auf.
Sie stand.
»Fragen Sie die Kleine mal«, murmelte Suko.
Schwester Bonifatia nickte. Sie ging ein paar Schritte vor und bückte sich. »Wo möchtest du hin, Jenny?«
»Ich… ich gehe…«
Die Schwester lächelte, obwohl es ihr schwerfiel. »Das haben wir gesehen, mein kleiner Schatz, aber wo möchtest du nun wirklich hin? Sag es mir bitte, meine Liebe.«
»Nach… zu… meinen Eltern?«
»Was?«
»Ja, ich gehe zu ihnen.«
»Weißt du denn, wo sie sind?« Jenny nickte heftig. »Nicht weit von hier. Ich muß nur in die Keller gehen.«
»Und dort findest du sie?« Das Kind nickte.
Die Schwester drehte den Kopf und schaute Suko an. Ihr Blick zeigte Verwunderung und Nichtbegreifen, aber der Chinese dachte anders über die Sache.
»Lassen Sie das Mädchen mal das machen, was es will. Es wird uns auf eine Spur bringen, glaube ich.«
»Aber ihre Eltern können nicht hier sein. Sie sind doch…«
»Was sind sie?«
»Ich weiß es nicht, Inspektor«, flüsterte die Frau. »Ich weiß es wirklich nicht…«
Jennifer Moore ließ sich von den beiden Anwesenden nicht irritieren. Sie nahm sie überhaupt nicht wahr und schlug den Weg zur Tür ein.
»Wo will sie denn jetzt hin?« hauchte die Schwester.
»Keine Ahnung. Aber sorgen Sie dafür, daß uns niemand in die Quere kommt. Wir müssen ihr folgen.«
»Ja, die anderen machen Schularbeiten, und die Kleinen müssen nach dem Essen schlafen.«
»Das ist gut.«
An Schwester Bonifatia und Suko schritt die schwarzhaarige Jenny vorbei und faßte nach der Türklinke. Sie drückte die Tür auf und trat über die Schwelle.
Die Befürchtungen, daß sie sich nach rechts wenden könnte, trafen nicht ein. Das Mädchen ging nach links, dort führte der Weg zum Keller. Eine grün lackierte Tür versperrte ihn.
»Ist sie offen?« hauchte Suko. Er und die Schwester folgten Jenny auf leisen Sohlen.
»Ja.«
Jenny legte den Arm auf die Klinke und öffnete die Tür. Eine mit PVC belegte Treppe führte in die Tiefe. An den Kanten besaßen die Stufen Gummileisten, damit sie ein Abrutschen in die Tiefe verhinderten. Jenny ging zwar nicht sehr schnell, aber äußerst zielstrebig. Sie stockte nie, und irgendwie erinnerte sie Suko an eine Schlafwandlerin, die genau wußte, was sie wollte.
Die Treppe mündete in einem Gang. An einigen Stellen zweigte er ab, so daß mehrere Seitengänge in die Tiefe des Kellers führten.
»Was wird hier alles untergebracht?« erkundigte sich der Chinese flüsternd.
»Wir lagern Lebensmittel, Baumaterial, Spielsachen…«
Suko nickte und beobachtete weiter. Jennifer schlug jetzt die linke Richtung ein. Sie verschwand in einem Seitengang und blieb vor einer Tür stehen.
Erst jetzt drehte sie den Kopf und sah Suko neben der Schwester vor sich stehen.
»Wo willst du hin?« fragte die Frau.
»Da sind sie!«
»Wer?«
»Mein Dad und meine Mummy!«
Schwester Bonifatia holte tief Luft und räusperte sich. Sie glaubte der Kleinen kein Wort, das entnahm Suko auch ihrem Gesichtsausdruck, aber er dachte anders darüber. Zuviel hatte er bereits in seinem Leben hinter sich, und so war er auf die tollsten Überraschungen gefaßt. Vielleicht hatte das Kind sogar recht.
Jenny öffnete die Tür.
Dabei entstand ein schmatzendes Geräusch. Die Schwester und Suko traten rasch näher, sie wollten sehen, was geschah, und die Kleine trat über die Schwelle.
Suko war mit zwei großen Schritten an der Tür. Auch er hatte einen freien Blick in den Keller und zuckte zurück.
»Bleiben Sie da!« rief er.
Die Schwester stoppte ihren Schritt. »Was ist denn los?« fragte sie und
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