Die Leichenstadt
Fluß. Ich hatte keine Quelle gesehen und wußte auch nicht, wo er mündete. Vielleicht im Nichts… »John Sinclair!«
Diesmal wurde ich angesprochen, drehte meinen Kopf und schaute auf Doreen Delano. Sie hatte ihren Nachen verlassen und hielt sich am Ufer auf. Ihr Kopf war nach hinten gedrückt, sie beobachtete mich und winkte mir zu.
»Ich will nicht in den Fluß springen!« rief ich zurück.
»Dann schwinge aus.«
Das war leichter gesagt als getan. Ich probierte es trotzdem, gab meinem Körper den nötigen Schwung, so daß die Strickleiter dieser Bewegung automatisch folgen mußte.
Ich fühlte mich als Pendel.
Vor und zurück, wieder das gleiche, und bei jedem Versuch legte ich mehr Kraft in meine Bewegungen.
»Gut, gut!« feuerte mich Doreen Delano an, »so müßte es klappen. Du befindest dich bereits über dem Ufer. Noch einmal, dann…«
Ich schwang wieder dem Fluß entgegen, merkte schon, daß ich in eine kreisförmige Bewegung geriet und sagte mir selbst, daß es höchste Zeit wurde.
Ich stieß mich ab und ließ los!
Für eine Sekunde hatte ich schreckliche Angst, trotz der guten Ratschläge noch in dem Blutstrom zu landen. Ich sah von ihm auch mehr als vom Ufer, wuchtete mich noch nach links und hatte Glück, daß ich mit beiden Füßen zuerst auf dem weichen Sand landete. Ich knickte ein, fiel nach vorn, überrollte mich und stieß dabei gegen etwas Hartes, das aus dem Sand ragte.
Als ich den Schrei hörte, zuckte ich herum. Meine Augen weiteten sich entsetzt. Was ich von oben als dunkle Kugel identifiziert hatte und jetzt aus unmittelbarer Nähe sah, war so grausam, daß sich mein Verstand weigerte, es zu erfassen.
Aus der Erde schauten Köpfe. Und sie gehörten zu den Männern der U-Boot-Besatzung!
***
Ich war sekundenlang wie gelähmt. Das passierte mir nicht oft. Doch dieses Bild so dicht vor meinen Augen, das blieb haften und erschütterte mich bis in die Tiefen meiner Seele.
Keiner war verschont geblieben. Der Sand hatte sie alle zu fassen bekommen und mit in die Tiefe gezogen. Es bestand auch die Möglichkeit, daß sie eingegraben worden waren. Wie dem auch sei, ihr Schicksal war schrecklich genug.
Ich war mit dem Fuß gegen das Gesicht des Kapitäns geprallt. Aus kürzester Distanz schaute mich Neeler an. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, den ich als unbeschreiblich wiedergeben möchte. Mir fiel nur der weit geöffnete Mund auf und darüber die übergroßen Augen, in denen der Irrsinn flackerte.
Ich stierte ihn regelrecht an. »Neeler«, flüsterte ich, »Neeler, verdammt, wie konnte das geschehen?«
»Sinclair!« Er ächzte, hatte Schwierigkeiten mit jedem Buchstaben.
»Was haben Sie uns angetan?«
»Ich nicht, Neeler, ich nicht…«
»Doch, oh mein Gott…« Er stöhnte schmerzerfüllt auf, und ich begann, wie ein Wahnsinniger mit beiden Händen den Sand zur Seite zu räumen, um ihn so auszuschaufeln.
»Nein, nein!« keuchte er, »es hat keinen Sinn. Wir sind verloren. Die Leichenstadt gibt uns nicht mehr her. Der Sand ist eine Falle, und die Spinnen…«
Ich zuckte zurück. Verdammt, er hatte die Spinnen erwähnt. An sie hatte ich nicht mehr gedacht. Als ich in die Runde schaute, da sah ich sie wieder. Sie krochen über den Sand und bewegten sich zwischen den Köpfen der Schiffsbesatzung.
Es waren nicht so viele wie oben, aber ihre Anwesenheit reichte, um das Grauen zu bringen.
»Da Sinclair, da! Schauen Sie nach rechts! Der Koch, ihn hat es als ersten erwischt.«
Ich drehte den Kopf.
Wenn es noch eine Steigerung des Grauens gab, dann erlebte ich sie jetzt. Der Kopf des Mannes verfaulte. Seine Haut löste sich von den Knochen, nur noch auf der Stirn hingen Reste, das Gesicht war ein Gerippe mit leeren Augenhöhlen, einem Loch als Mund, aus dem eine häßliche Spinne kroch.
Ich begriff.
Die Menschen steckten bis zum Hals in diesem tödlichen Sand. Und in ihm lebten die Spinnen, die sich anscheinend im Sand bewegen konnten und ihre Opfer ins Visier nahmen. Sie bissen die wehrlosen Menschen, und ihr dämonisches Gift sorgte dafür, daß aus den Opfern die schrecklichen Skelette wurden.
So sah die Rache der Leichenstadt aus!
In mir explodierte etwas. Ich mußte meinem Zorn und meiner Wut einfach freie Bahn lassen, zog den geweihten Silberdolch und hieb ihn in den Panzer der Spinne, die soeben aus dem Mund des Kochs gekrochen war.
Ich knackte das Biest, nahm den Dolch wieder an mich und tötete auch die drei nächsten.
»Es hat keinen Sinn!« keuchte Neeler. »Zu
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