Die Leichenstadt
vor langer Zeit die Grenze überschritten. Man lockte sie in die Leichenstadt, um sie zu töten.«
»Was meinst du mit damals?«
»Vor über 10 000 Jahren!«
Jetzt wußte ich Bescheid. So alt wie der Untergang des Kontinents Atlantis war auch das Blut dieser Menschen. »Und welche Bedeutung hat der Fluß?«
»Er ist für die Großen Alten bestimmt und wird ihre Kraft noch mehr stärken.«
Meine Augen wurden groß. »Ist das keine Lüge?«
»Nein. Alles, was du hier siehst und hörst, entspricht den Tatsachen. Die Leichenstadt ist phantastisch, und wen sie einmal in den Klauen hat, den läßt sie nicht mehr los.«
»Das heißt also, daß ich hier nicht wegkomme?« hakte ich nach. Eine Antwort bekam ich nicht. Doreen bückte sich, nahm eine lange Ruderstange hoch und stach sie in das fließende Blut, das schon älter als 10 000 Jahre war.
Ich warf noch einen Blick auf das Ufer.
Nach wie vor ragten die Köpfe aus dem Sand. Über allem schwebte das seltsame grüne Licht, das für die Leichenstadt und die Großen Alten irgendwie charakteristisch war. Die Gesichter der Eingegrabenen bewegten sich. Ich sah förmlich die stummen Schreie, die sie mir entgegenschickten, denn durch das Rauschen des Blutflusses war nichts zu hören.
Als Doreen Delano den Nachen etwa bis auf die Flußmitte dirigiert hatte, holte sie die Stange wieder ein und legte sie neben sich auf die Planken. Sie nahm Platz und saß mir gegenüber, wobei sie mich anschaute, als würde sie von mir Fragen erwarten.
»Wohin fahren wir?«
Ich enttäuschte sie nicht. »Das werden wir dem Fluß überlassen.«
»Bringt er uns nicht aus der Pyramide?« erkundigte ich mich.
»Wer weiß…«
Sie redete in Rätseln, und ich war mir sicher, daß sie es bewußt tat. Über ihre Rolle dachte ich weiter nach. Was spielte sie hier? Welch eine Verbindung gab es zwischen ihr und dieser grauenhaften Stadt in einer anderen Dimension?
Ich wußte die Antwort nicht und konnte nur hoffen, daß ich sie irgendwann einmal bekam.
Das Boot besaß eine seltsame Form. Es wirkte wie eine große Holzschale, war schwer zu lenken, und am besten verfuhren wir, wenn wir uns treiben ließen.
Als ich einen Blick in die Höhe warf, da sah ich den helleren Ausschnitt nicht mehr, so weit hatten wir uns inzwischen von der Pyramidenmitte entfernt.
Doreen schwieg weiter, aber ich wollte wissen, wohin wir fuhren. Ich hatte keine Lust, noch länger zu warten und auch zu raten. »Wohin geht diese Reise denn nun?« fragte ich.
Da schaute sie mich an und lächelte. Ihre Lippen bewegten sich kaum, als sie die Antwort gab, und ich mußte mich anstrengen, um die Worte zu verstehen.
Sie waren leise gesprochen, für mich allerdings besaßen sie die Brisanz einer Bombe.
»Die Reise führt uns zu den Gräbern der Großen Alten…«
***
Schwester Bonifatia und auch Suko standen dem Phänomen fassungslos gegenüber. So etwas hatte selbst der Inspektor noch nicht gesehen, geschweige denn die Ordensschwester.
Da lag der Kopf des kleinen Mädchens auf dem Kissen. Die Lippen waren sogar zu einem Lächeln verzogen, den Hals konnten sie auch zum Teil noch sehen, doch wo sich die Schultern befinden mußten, da krabbelten und bewegten sich zahlreiche Spinnen.
Nicht nur das. Auch die Brust, die Arme, die Beine, Hände und Füße der kleinen Jennifer bestanden aus Spinnen. Und sie hingen oder klebten so aneinander, daß sie genau die Umrisse des menschlichen Körpers nachbildeten.
Ein aus Spinnen bestehender Mensch lag vor ihnen im Bett. Nur der Kopf war normal.
Nachdem Suko dieses schreckliche Bild in sich aufgenommen hatte, drehte er den Kopf und warf Schwester Bonifatia einen raschen Blick zu. Die Frau schien eingefroren zu sein. So wirkte sie jedenfalls. Suko kannte sich mit Menschen und deren Reaktionen aus. Wenn sich jemand so verhielt wie die Schwester, dann stand er kurz vor dem Durchdrehen. Man konnte es auch als die Ruhe vor dem Sturm bezeichnen.
»Schwester!« sprach Suko die Frau an.
Sie zitterte. Das Beben lief durch ihre gesamte Gestalt, und dann öffnete die Schwester den Mund zu einem gellenden Schrei. Soweit durfte es der Inspektor nicht kommen lassen. Wenn die Schwester schrie, alarmierte sie die anderen Mitbewohner und vor allen Dingen auch die Kinder, die auf keinen Fall in Gefahr geraten sollten, denn die andere Seite würde auf sie keine Rücksicht nehmen. Suko handelte hart, aber richtig.
Bevor sich der Schrei aus dem Mund der Schwester lösen konnte, hatte Suko ihr seine
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