Die leichten Schritte des Wahnsinns
voller Verzweiflung. »Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, daß ein Vortrag von mir ausreicht,
um dich vom Rauchen abzubringen, aber das muß doch wirklich nicht sein!«
»Verzeih mir, Michael!« Lena griff sich an den Kopf. »Ich hab’s unbewußt gemacht.«
»Genau! Das ist es ja, du bist dir nicht einmal bewußt, was du tust. Sag mal ehrlich, denkst du an diesen Mann, diesen Wenjamin,
der uns gestern in den schicken Club gefahren hat?«
»Wie kommst du darauf?« fragte Lena erschrocken.
»Liebes Kind, ich bin ein alter Mann. Ich habe im Leben schon mancherlei gesehen, obwohl ich seit vierzig Jahren mit derselben
Frau zusammenlebe. Ich sage dir vielleicht wieder eine Banalität, aber glaub mir, die romantische Verliebtheit geht sehr schnell
zu Ende. Was bleibt, sind Bitterkeit und Enttäuschung. Du bist eine junge, schöne Frau, und daß du verheiratet bist, hindert
niemanden, dir den Hof zu machen. Wärst du meine Tochter, würde ich dir sagen: Sei vorsichtig, geh nicht zu weit.«
»Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Lena leise. »Esgibt keine romantische Verliebtheit, jedenfalls nicht auf meiner Seite.«
»Na, dann ist’s ja gut.« Michael lächelte erfreut. »Weißt du was, während ich dir den Vortrag über die Gefahren des Rauchens
gehalten habe, bin ich ordentlich hungrig geworden. Komm, wir gehen nach unten ins Restaurant und sehen nach, ob es vegetarisches
Essen gibt.«
Als Lena gerade das Hotelzimmer abschließen wollte, klingelte das Telefon.
»Merkwürdig«, meinte Michael erstaunt, »wer kann das sein?«
Es war Sascha, der Chauffeur. Er stand unten am Empfang.
»Ich dachte, ihr hättet schon gegessen und wolltet jetzt eine Stadtrundfahrt machen. Aber macht nichts, ich warte.«
Lena war über so viel Eifer etwas erstaunt. Aber dann dachte sie, daß der junge Mann es nicht abwarten konnte, etwas Geld
zu verdienen; vielleicht fürchtete er auch, daß andere ihm den reichen ausländischen Kunden abspenstig machen könnten.
»Ja, warte im Foyer auf uns. Vielleicht müssen wir noch woanders hinfahren, wenn es in diesem Restaurant kein vegetarisches
Essen gibt.«
»Was denn, dein Professor ißt kein Fleisch?«
»Fisch auch nicht.«
»Mein Beileid. Da wird er’s hier nicht leicht haben. Gut, wenn es im Hotelrestaurant nichts für ihn gibt, überlege ich mir,
wohin ich euch fahren kann.«
Das Hotelrestaurant erwies sich als sehr anständig, mit zuvorkommenden, freundlich lächelnden Kellnerinnen und blütenweißen
Tischdecken. Vegetarisch waren allerdings nur die Gemüsebeilagen und Bratkartoffeln.
»Es gibt auch noch Bliny mit saurer Sahne, extrazur Butterwoche«, erklärte die Kellnerin, »bestellen Sie doch das für den Ausländer, ich kann es sehr empfehlen.«
Sie brachte einen solchen Berg Bliny, daß Michael die Hände zusammenschlug.
»Ich habe gelesen, daß sich die russischen Kaufleute in der Butterwoche zu Tode gefressen haben! Wenn wir das alles aufessen,
kriegen wir garantiert Darmverschlingung. Hör mal, du hast doch gesagt, daß dieser Bursche, der Chauffeur, im Foyer sitzt.
Der kann uns doch helfen, diese Massen zu bewältigen.«
Sascha saß in einem Sessel und blätterte zerstreut in den Zeitschriften, die auf dem Tisch ausgelegt waren.
»Hallo noch mal!« sagte er erfreut. »Habt ihr schon gegessen?«
»Nein, wir haben gerade erst angefangen. Michael lädt dich zu Bliny ein.«
Als sie mit Sascha in den Speisesaal zurückkehrte, spürte Lena plötzlich, daß jemand sie beobachtete. Sie drehte sich um und
bemerkte einen jungen, schnurrbärtigen Barkeeper, der hinter seiner Theke die Gläser polierte. Als er Lenas Blick begegnete,
wandte er sich sofort ab und begann das feine Glas mit solchem Ingrimm zu wienern, daß es dem Druck nicht standhielt und in
seinen Händen zerbrach.
Kapitel 28
Katja Kolossowa, Sekretärin des Chefredakteurs von »Smart«, hatte ihren Mantel noch nicht ausgezogen, als im Vorzimmer schon
laut das Telefon klingelte.
»Wer ruft denn in dieser Herrgottsfrühe schon an?« brummte Katja und nahm den Hörer ab.
»Hello!« miaute eine hohe weibliche Stimme auf Englisch aus dem Hörer. »Ist dort die Zeitschrift ›Smart‹?«
»Ja«, antwortete Katja auf Englisch. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich rufe aus New York an. Eine Mitarbeiterin von Ihnen, Mrs. Poljanskaja, begleitet meinen Mann als Dolmetscherin. Ich weiß,
daß er in Moskau bei ihr zu Hause wohnt, aber ich kann dort schon seit
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