Die leichten Schritte des Wahnsinns
zwei Tagen niemand erreichen. Ich ängstige mich so.
Wissen Sie, mein Mann ist nicht mehr der Jüngste.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Madam. Es ist alles in Ordnung. Sie sind schon nach Tjumen geflogen.«
»Ach ja, natürlich! Kann ich sie denn dort irgendwie erreichen? Hat Mrs. Poljanskaja Ihnen das Hotel genannt, in dem sie Zimmer
reserviert hat?«
»Leider nein. Aber sie bleiben auch nicht lange in Tjumen, soviel ich weiß, sie haben ein umfangreiches Programm – Tobolsk,
Chanty-Mansijsk. Wenn Mrs. Poljanskaja anruft, kann ich sie bitten …«
»Nein, danke, das ist nicht nötig. Ich bin jetzt beruhigt. Mein Mann sagt sowieso immer, ich sei eine alte Psychopathin. Nochmals
vielen Dank. Alles Gute.« Das Freizeichen ertönte.
»Ach, du Schreck!« Katja griff sich an den Kopf. »Lena hat mich extra gebeten, niemandem zu sagen, wohin sie mit ihrem Professor
geflogen ist! Aber das war schließlich ein Anruf aus New York …«
Die Frau des Professors hatte eine maunzende Aussprache, mit langgezogenen Vokalen. So sprechen die Einwohner von New York,
genauer gesagt, die Einwohnerinnen, noch genauer – ältere Damen mit höherer Bildung aus den wohlhabenden Vierteln Brooklyns.
Katja kannte diesen besonderen damenhaften New-Yorker Akzent sehr gut. Sie hatte schon oft mit solchen Frauen zu tun gehabt,
sowohl am Telefon wie auch in Moskau und New York, wohin der Chefredakteur sie mitgenommen hatte.
Eine Sekunde lang schoß ihr der Gedanke durch denKopf, daß es ein normales Klingelzeichen gewesen war, nicht wie bei einem Ferngespräch. Es hatte nur in der morgendlichen
Stille der leeren Redaktion ungewöhnlich durchdringend geklungen. Aber diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Vor ihr
lag ein langer, turbulenter Arbeitstag.
***
Ich wußte es, dachte Regina, Tjumen – Tobolsk – Chanty … Na, und wenn schon, jetzt habe ich endgültig freie Hand. Dort ist
sie ja ohne ihr Kind. Aber die Zeit, die Zeit … Bis ich mit dem Blinden Kontakt aufgenommen habe, bis er dorthin geflogen
ist …
Der bloße Gedanke daran, womit sich die Poljanskaja jetzt in Tjumen und Tobolsk beschäftigen mochte, ließ Reginas Hände feucht
werden. Und wenn sie sich vorstellte, daß ihr jemand dort half … Wer weiß, wie viele freundliche Gönner sich im dortigen Innenministerium
oder FSB finden mochten! Nein, sie mußte irgendwas unternehmen, jetzt, in diesem Augenblick. Natürlich, der Blinde würde seine
Arbeit tun, aber bis dahin würden noch mindestens drei Tage vergehen. Vielleicht sogar mehr. Jeder Schritt, den diese Frau
jetzt tat, konnte sich als verhängnisvoll erweisen – für den Konzern und damit auch für Regina.
Sie dachte kurz nach, dann wählte sie auf ihrem Handy die Acht, die Vorwahl für Tjumen, und danach noch mehrere Ziffern. Sie
hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Telefonnummern, besonders für solche, die man besser nicht ins Adreßbuch schrieb
– nicht einmal ohne Angabe von Namen.
***
Für sich genommen, waren die Aussagen des Untersuchungshäftlings Pawel Sewastjanow nichts wert, obwohl sie protokolliert und
aufgezeichnet worden waren. Sie konntenerst dann bedeutsam werden, wenn Spaten und Kralle nicht nur ihr Treffen mit Regina Gradskaja bestätigten, sondern auch noch
möglichst genau den Inhalt ihres Gesprächs mit dieser Dame wiedergaben.
Die Idee, eine Gegenüberstellung zu arrangieren, erschien Mischa zuerst absurd. Aber andere Ideen hatte er nicht. Aus Erfahrung
wußte er, daß solche Ganoven meist leicht zu beeindruckende, hysterische Naturen sind. Besonders, wenn man sie tagelang in
den schwülen, stinkenden Zellen des Untersuchungsgefängnisses schmoren läßt. Auf diese Hysterie hoffte Mischa. Er beschloß,
vor der Gegenüberstellung Spaten und Kralle zum Einzelverhör vorzuladen. Beiden würde er die herzzerreißende Geschichte erzählen,
daß die kluge, reiche Regina Valentinowna sie, die armen Schweine, verpfiffen und mit Haut und Haaren verkauft hätte. Ja,
sie hätte bestätigt, daß sie im Kasino die beiden Ganoven getroffen hätte. Aber in ihrer Naivität hätte sie gedacht, sie spräche
mit zwei anständigen Kerlen. Es sei eine ganz normale Unterhaltung gewesen, allerlei Klatsch und Tratsch, zum Beispiel darüber,
daß in einem Restaurant in der Nähe von Moskau demnächst ein zünftiges Jubiläum gefeiert würde und dort niemand Geringeres
als der junge, begabte Sänger Juri Asarow singen werde. Sie habe ja nicht
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