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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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auf und nahm ihre Pantoffeln und den großen Kosmetikbeutel aus der Reisetasche.
    Der Vater von Wassja Slepak ist wegen Vergewaltigung und Mord an mehreren Mädchen angeklagt worden, dachte sie, während sie
     Shampoo, Zahnpasta und Seifendose auf die Ablage im Bad stellte. In der letzten Erzählung von Sacharow ging es um einen Mann,
     der zu Unrecht der Vergewaltigung und des Mordes verdächtigt wurde. Slepak senior ist hingerichtet worden. Sacharow wurde
     ermordet. Von Tjumen bis Tobolsk braucht man mit dem Zug eine Nacht, mit dem Flugzeug nur eine Stunde. Wolkow ist in Tobolsk
     geboren und aufgewachsen. Vor vierzehn Jahren hat man im Park am Tobol ein vergewaltigtes Mädchen tot aufgefunden. Wir haben
     in jener Nacht ein Lagerfeuer gemacht, Schaschlik gebraten und Lieder gesungen. Und zur gleichen Zeit hat jemand das Mädchen
     vergewaltigt und umgebracht. Ganz in der Nähe … Wenja Wolkow war die ganze Zeit bei uns.
    Lena drehte den Hahn der Dusche auf und konnte es kaum fassen: Sofort strömte heißes Wasser heraus. Es hatte sich in diesen
     vierzehn Jahren also doch allerhand verändert!
    Nein, dachte sie, während sie den Schmutz und die Müdigkeit der Reise abwusch, er ist damals längere Zeit weggewesen. Mitja
     hat ihn ja gesucht. Und danach waren Blutflecken auf seinem hellen Pullover.
    Sie hüllte sich in das große Badetuch, schlüpfte in die Pantoffeln und holte aus den Tiefen ihrer Reisetasche ein Emailletöpfchen,
     einen Tauchsieder, eine Dose gemahlenen Kaffee, Zucker und zuletzt eine kleine Tasse aus Neusilber, die sie seit vielen Jahren
     auf Reisen begleitete. Sie brühte sich einen Kaffee und zog sich an. Kaum hatte sie den Reißverschluß ihrer Jeans hochgezogen,
     da klopfte jemand an die Tür.
    Es war Michael, rosig und mit schimmernder Glatze. Erhatte ebenfalls geduscht, sich umgezogen und mit Toilettenwasser besprengt.
    »Ich überlege die ganze Zeit«, sagte er und setzte sich in den Sessel, »ob es hier im Restaurant vielleicht gar kein vegetarisches
     Essen gibt? Was soll ich dann machen?«
    »Laß uns erst mal Kaffee trinken«, schlug Lena vor.
    »Kaffee und Zigaretten, Zigaretten und Kaffee – das ist alles, was du zu dir nimmst. Kein Wunder, daß du so mager bist. Ich
     will dich nicht mit Binsenweisheiten langweilen, aber die Statistik sagt, daß jeder dritte Raucher an Tachykardie leidet und
     das Risiko, Lungenkrebs zu bekommen, sich um achtzig Prozent erhöht …«
    Auf dem Pullover waren Blutflecken, dachte Lena, ich weiß nicht mehr, wie lange Wolkow weg war, aber … Als ich nach dem Picknick
     das Geschirr in die Tasche gepackt habe, fehlte das Messer. Ich erinnere mich an dieses Messer noch ganz genau, weil Wolkow
     damit so geschickt die Zwiebeln für das Schaschlik geschnitten hat, in ganz gleichmäßige Ringe. Es waren frische Zwiebeln,
     uns allen dreien liefen die Tränen herunter, obwohl wir uns weggedreht haben. Aber er hat nicht geweint.
    »Zigaretten mit niedrigerem Nikotin- und Teergehalt sind bloß Tricks der Tabakkonzerne. Solche Zigaretten sind immer teurer,
     das heißt, man läßt dich für die Illusion, dem Organismus weniger zu schaden, auch noch bezahlen.« Michael war aufgestanden
     und wanderte, lebhaft gestikulierend, in dem kleinen Hotelzimmer auf und ab.
    In Tjumen war doch auch so was Ähnliches, dachte Lena und starrte auf den dunkelblauen Emailletopf mit dem Tauchsieder. Plötzlich
     stand ihr wieder klar der Junimorgen im Hotel »Wostok« vor Augen. Mitja hatte genauso einen Topf, nur doppelt so groß, und
     einen Tauchsieder … Er ist zum Hotelbüfett gegangen, als er zurückkam, war er ganz bleich. Jemand hatte ihm von einem vergewaltigten
     und ermordeten Mädchen erzählt. Das Mädchen besuchte dieBerufsschule, in der wir am Abend zuvor aufgetreten waren. Halt, das paßt nicht zusammen!
    »Du kannst mir widersprechen und das Beispiel von Louis Armstrong anführen, der viele Jahre geraucht und trotzdem ein hohes
     Alter erreicht hat. Aber das ist eine glückliche Ausnahme, die die traurige Regel nur bestätigt …«
    Warum paßt es nicht zusammen? fragte sich Lena. Nur darum, weil es mir große Angst macht, wenn alles auf Wolkow hindeutet?
     Er war damals in Tjumen! Natürlich, wir sind doch zusammen nach Tobolsk gefahren. Dabei hatten wir ja dieses merkwürdige nächtliche
     Gespräch auf der Plattform.
    Ihr Herz klopfte heftig. Mechanisch schüttelte sie eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an.
    »Lena!« schrie Michael

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