Die leichten Schritte des Wahnsinns
ist Wassili jetzt?« fragte sie. »Wie geht es ihm?«
»Tja, nicht schlecht, wie’s scheint«, sagte die Alte und sprach auf einmal ganz leise. Ihr hartes, trockenes Gesicht näherte
sich Lena. »Er schickt regelmäßig Geld, gutes Geld. Davon leben wir, können Lebensmittel kaufen und Medikamente. Er selber
war das letztemal vor zwei Jahren hier. Gut gekleidet, ein stattlicher Mann, gesund wie ein Stier – kaum wiederzuerkennen!
Von sich hat er nichts erzählt. Eine Nacht ist er geblieben, hat seiner Mutter einen Rollstuhl mitgebracht, so einen leichten,
den man zusammenklappen kann. Wenn es warm wird, fahre ich sie damit wieder spazieren. Außerdem einen Wollschal und zwei warme
Kleider und für mich einen Mantel, einen teuren mit Pelzkragen. Zum Tragen ist er mir zu schade, er hängt erst malim Schrank. Eine Menge Geld hat er uns auch noch dagelassen. Wenn Wassja plötzlich auftaucht, kann ich ihm von dir erzählen?«
»Ihm ja«, sagte Lena, »aber sonst bitte niemandem.«
»Gut, ich verstehe.« Die Alte preßte vielsagend ihre dünnen Lippen zusammen. »Raja und ich, wir halten dicht. Wem sollten
wir auch davon erzählen, außer Wassja haben wir ja niemanden zum Reden, gebe Gott, daß er bald kommt. Ich habe ja keine eigenen
Kinder. Wir beide, Raja und ich, haben nur ihn, ein Sohn für zwei Frauen.«
Suche ich wirklich den Mörder? fragte sich Lena, als sie durch die Pforte auf den verschneiten Hof trat. Ja, das tue ich.
Und ich habe große Angst.
Die Laternen brannten nicht. Die Straße war leer. Lena wußte nicht einmal, in welche Richtung sie gehen mußte. Sie wollte
schon ins Haus zurück und Soja Danilowna fragen, wie sie am besten ins alte Stadtzentrum käme, da hörte sie plötzlich ein
leises Hupen. Scheinwerfer flammten auf und erloschen wieder. Saschas kleiner Moskwitsch wartete auf sie, eingezwängt in eine
enge Durchfahrt zwischen den Plattenbauten. Lena freute sich über ihn wie über einen alten Freund.
***
»Sie war bei der Mutter von Slepak.«
»Bei wem?«
»Bei der Mutter von Wassili Slepak. Drei Stunden hat sie dort gesessen.«
»Und dann?«
»Dann habe ich sie ins Hotel gebracht.«
»Worüber habt ihr unterwegs gesprochen?«
»Sie hat mich gefragt, ob ich zufällig wüßte, wo sich die psychologische Betreuung für den Bezirk der Malaja Proletarskaja
befindet. Ich habe ihr versprochen, sie morgen früh dort hinzubringen.«
»Hast du nach dem Grund dafür gefragt?«
»Natürlich. Sie hat gesagt, sie hätte vor kurzem für ihre Zeitschrift den Artikel eines amerikanischen Psychologen über Serienmörder
übersetzt und würde sich für dieses Thema sehr interessieren. Sie wolle selber etwas darüber schreiben. Und hier bei uns im
Gebiet Tjumen habe es doch Anfang der achtziger Jahre einen wahnsinnigen Serienkiller gegeben, der junge Mädchen umgebracht
habe. Deshalb habe sie beschlossen, hier Material für ihren Artikel zu sammeln.«
»Das ist ja ein Ding. Und ist man euch schon auf den Fersen?«
»Anscheinend nicht. Aber das kommt bestimmt noch, wenn sie so weitermacht. Bei uns mag man keine Neugierigen.«
»Und was meinst du zu alledem?«
»Es ist noch zu früh für eine Meinung. Überprüft ihr doch mal über eure Kanäle alles, was ihr finden könnt, nicht nur über
Slepak, sondern auch über seinen Vater. Ich nutze meine Kanäle.«
»Slepak senior war der Serienkiller, der seinerzeit unter dem Namen ›der Stille‹ figurierte. Er wurde vor elf Jahren erschossen.«
»Sie haben ja ein Gedächtnis!«
»Ich kann mich nicht beklagen. Aber ich werde vorsichtshalber ins Archiv gehen. Ist das vorläufig alles?«
»Offenbar ja.«
»Offenbar oder wirklich?«
»Wissen Sie, die Mutter von Slepak hat vor elf Jahren einen Schlaganfall gehabt. Ihre Beine sind gelähmt, und sie ist nicht
mehr ganz richtig im Kopf. Es gibt zwar noch ihre Schwester. Aber aus der kriegt man nicht einmal mit glühenden Zangen ein
Wort heraus. Worüber hat Ihre Madame bloß drei Stunden lang mit zwei verrückten Weibern geredet? Wo und wann hat sie die beiden
so gutkennengelernt? Woher wußte sie die Adresse? Das ist schon eine interessante Frau.«
»Ja, interessanter, als ich erwartet habe.«
»Soll ich mich vielleicht zu erkennen geben?«
»Ich glaube, sie wird dich selber erkennen. Oder hat dich sogar schon erkannt.«
Major Ijewlew legte den Hörer auf und starrte die Tür seines Büros an. Eine solche Wendung hatte er nicht erwartet. Am Abend,
bevor
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