Die leichten Schritte des Wahnsinns
bewaffneter Wachmann an.
»Zu wem wollen Sie?«
»Zu Valentina Jurjewna Gradskaja, Zimmer 130.«
»Können Sie sich ausweisen?«
Lena reichte ihm ihren Presseausweis und Michaels blauen Paß.
»Sie können gehen«, sagte der Wachmann und gab ihnen die Ausweise zurück. »Erster Stock, über den Flur nach links.«
Im Flur lag ein dicker Läufer. Auf den Fensterbrettern standen Blumentöpfe. Alles war sauber und seltsam still. Keine Menschenseele
begegnete ihnen.
»Herein, herein!« antwortete ihnen auf ihr Klopfen eine lebhafte Greisenstimme.
Sie waren überrascht, in dieser staatlichen Institution ein so wohnliches, gemütliches Zimmer zu sehen: in der Mitte ein runder
Tisch, an den Wänden Bücherregale vom Boden bis zur Decke, ein kleiner antiker Sekretär, darauf eine nagelneue Schreibmaschine
und ordentlich gestapelteManuskripte, ein niedriger Diwan, den ein riesiges Häkeltuch bedeckte, ein elegantes Wandbord vom Ende des vorigen Jahrhunderts,
auf dem ein Plattenspieler aus den sechziger Jahren und zwei Reihen Schallplatten standen.
Valentina Jurjewna hatte sich kaum verändert – immer noch dasselbe schneeweiße, ordentlich frisierte Haar, dieselbe Seidenbluse
mit dem runden kleinen Kragen und der zierlichen Brosche am Hals. Sie war noch magerer geworden, und in ihrem Gesicht war
etwas Rührend-Kindliches. Lena hatte schon früher bemerkt, daß bei sehr alten Menschen, die ein langes Leben hinter sich haben,
ohne verbittert geworden zu sein oder ihren klaren Verstand verloren zu haben, die Gesichter kindlich werden – als kehre der
Mensch wieder an den Anfang seines Lebenskreises zurück, zu einer geheimnisvollen, ewigen Weisheit, wie sie nur kleinen Kindern
und uralten Greisen zugänglich ist.
»Wenn ich Sie anschaue, habe ich gar keine Angst mehr vorm Alter«, sagte Michael auf Englisch und reichte ihr mit einem Lächeln
die Hand. »Professor Barron, Columbia-Universität, New York.«
»Sehr angenehm. Wenn ich recht verstehe, haben meine Kollegen aus der Bibliothek Ihnen empfohlen, mich zu besuchen. Sie sind
vermutlich Historiker?« Sie sprach ein klassisches Englisch, ohne die amerikanische Unsitte, die Vokale zu verzerren. »Und
Sie, mein Kind, sind sicher die Dolmetscherin?« wandte sie sich auf Russisch an Lena. »Ich denke, Sie werden sich über eine
kleine Erholungspause freuen.«
Lena beschloß, vorläufig nichts davon zu sagen, daß sie sich schon einmal begegnet waren. In vierzig Minuten würde Sascha
Michael abholen, um ihn zu seinem Rendezvous mit der schönen Natascha zu bringen, und sie würde hierbleiben. So war es verabredet.
»Lena, Sie können sich inzwischen ein paar Kunstbändeanschauen oder meine Fotoalben, ich habe mein ganzes Leben lang Fotografien gesammelt«, sagte die Gradskaja. »Was interessiert
Sie mehr?«
Lena bat um die Alben. Sie liebte alte Fotografien. Als sie das zweite Album in die Hand nahm, fiel ein großes Foto auf festem
Karton heraus: »Oberschule Nr. 2, Jahrgang 1963.« Ovale Rahmen mit den Gesichtern der Schüler und Lehrer, blasse Vignetten
aus Sternen, Ähren, Sicheln und Fabrikschornsteinen. Lena wollte das Foto schon beiseite legen, da fiel ihr Blick plötzlich
auf die Unterschrift unter einem der Gesichter: »Gradskaja, Regina.«
Von allen Mädchen war sie das häßlichste – eine breite, plattgedrückte Nase, lange, vorstehende Zähne, ein fliehendes Kinn,
tiefliegende kleine Augen. Lena konnte ihren Blick nicht von diesem Gesicht losreißen.
Da klopfte es an der Tür. Sascha trat ein. Unter überströmenden Dankesbekundungen begann Michael sich anzuziehen.
»Ich hole dich in einer halben Stunde ab«, sagte Sascha zu Lena.
»Nicht nötig. Ich finde selbst zum Hotel zurück. Valentina Jurjewna, darf ich noch ein bißchen bleiben? Ich möchte mich mit
Ihnen über diese Fotos unterhalten«, wandte sie sich an die Gradskaja.
»Gern, mein Kind«, sagte Valentina Jurjewna, »ich freue mich, wenn Sie noch bleiben. Ich habe so selten Besuch.«
Als Sascha und Michael gegangen waren, betrachtete sie Lena aufmerksam durch ihre Brille.
»Sagen Sie, wo habe ich Sie schon einmal gesehen?«
»Das ist lange her«, sagte Lena. »Vor vierzehn Jahren haben Sie drei junge Moskauer Studenten in Ihre Bibliothek geführt.
Danach haben Sie uns mit Tee und Moosbeerkonfitüre bewirtet und uns viele interessante Dinge erzählt.«
»Tatsächlich?« Die alte Frau schüttelte erstaunt den Kopf.»Daran kann ich mich
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