Die leichten Schritte des Wahnsinns
Mappe zu.
»Weiter braucht man gar nicht zu lesen, es ist auch so schon alles klar. Morgen mußt du deinem schüchternen Milizionär umständlich
auseinandersetzen, daß ›schlanke Birken‹ und ›vergißmeinnichtblaue Augen‹ gräßliche literarische Klischees sind. Er wird es
nicht begreifen und beleidigt sein.«
»Laß gut sein und schimpf nicht.« Lena machte es sich mit dem Manuskript auf dem Bett bequem.
Die Erzählung hieß »Der Unhold«. Auf zwölf Schreibmaschinenseiten wurde holprig und weitschweifig geschildert, wie das rotwangige
Mädchen mit den Vergißmeinnichtaugen ermordet und vergewaltigt im Stadtpark gefunden wurde, wie ein furchtloser Kommissar
rasch denÜbeltäter entlarvte, einen Trinker und Streuner, der, in die Enge getrieben, seine Untat gestand.
Um zwei Uhr nachts wollte Wenjamin sie abholen. Zum Abschied hatte er sie zu einem nächtlichen Picknick am Ufer des Tobol
eingeladen.
»Eine verrückte Idee von deinem Bruderherz!« Lena legte die Mappe mit der Erzählung beiseite, zog sich die Turnschuhe an und
streifte den warmen Pullover über ihre Flanellbluse. »Die Mücken werden uns dort bei lebendigem Leibe auffressen.«
»Das war nicht mein Bruderherz, das hat sich dein teurer Wenjamin ausgedacht.«
»Was heißt hier ›mein Wenjamin‹?«
»Das heißt, alle diese Freuden, die Banja, die Ausflüge, und seine ganze unerschöpfliche Aufmerksamkeit gelten ausschließlich
dir.«
»Olga, hör auf damit, es hängt mir zum Hals raus«, sagte Lena und verzog das Gesicht.
»Er ist rettungslos in dich verknallt, dieser Wenja. Das hat sogar Mitja bemerkt. Er sieht übrigens wirklich gut aus, ein
Kerl wie ein Baum, ein echter Sibirjake! Der wird es noch weit bringen. Vom Stadtkomitee ins Gebietskomitee, und dann, wart’s
ab, dank Komsomol und Partei bis nach Moskau. Diese Jungs vom Komsomol sind zäh. Also verpaß deine Chance nicht, Lena.«
Olga lachte fröhlich, aber gleich darauf verschluckte sie sich fast und verstummte: In der Tür stand Wolkow.
***
Die Mücken stachen gnadenlos, ohne sich vom Qualm der Birkenrinde abhalten zu lassen, die Wolkow abgehobelt und ins Feuer
geworfen hatte. Die Nacht war sehr hell. Olga hatte sich ein Bett aus weichen Tannenzweigen gemacht, wachte aber immer wieder
auf und schlug nach denaufdringlichen Mücken. Mitja zupfte träge auf der Gitarre herum, Lena rauchte und blickte in das schwelende Lagerfeuer.
Das Schaschlik war längst aufgegessen und der Wodka ausgetrunken. Hinter den Baumwipfeln ging langsam eine riesige, blasse
Sonne auf. Nach der schlaflosen Nacht fröstelten alle ein wenig.
»Hört mal, ich möchte zurück ins Hotel«, sagte Olga und stützte sich auf den Ellbogen. »Ich hab genug von eurer Mückenromantik.«
»Gleich«, sagte Lena. »Wenn Wenjamin kommt, brechen wir auf.«
»Wohin ist er denn verschwunden?« fragte Olga verwundert. »Er war doch gerade noch hier.«
»Er stromert schon seit vierzig Minuten irgendwo herum«, sagte Mitja, hörte auf zu klimpern und sah auf die Uhr. »Vermutlich
sucht er die Einsamkeit, um seine Wunden zu lecken. Lena würdigt ihn ja keines Blickes mehr.«
»Hört mal, was habt ihr bloß immer mit diesem Komsomolzen?« Lena warf ihren Zigarettenstummel in das glimmende Feuer. »Ob
der in mich verliebt ist oder nicht, interessiert mich nicht im geringsten. Das ist sein Problem.«
»Eine erbarmungslose Frau bist du«, seufzte Mitja und erhob sich träge. »Ich werde den unglücklich Verliebten mal suchen gehen.«
Fünfzehn Minuten später stieß er mit Wolkow zusammen und blieb bei seinem Anblick wie versteinert stehen. Der Komsomolze schwankte.
Auf seinem hellen Pullover waren dunkle Flecken. Die weit aufgerissenen Augen starrten Mitja mit einem irren, blinden Ausdruck
an. Er atmete laut und schwer.
»Wenja! Was hast du?« schrie Mitja und begriff im selben Moment, daß die Flecken auf seinem Pullover Blutflecken waren.
Wolkow schrak heftig zusammen und kam zu sich.
Hinter Mitja knackten Zweige, und einen Augenblick später standen Olga und Lena neben ihm.
»Mein Gott, Wenja, Sie sind ja voller Blut! Was ist passiert? Ist Ihnen schlecht?« Lena lief auf ihn zu und legte ihm die
Hand auf die Schulter.
»Ich habe Nasenbluten«, sagte er heiser.
»Sie müssen den Kopf zurücklegen und sich die Stirn kühlen.« Lena zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche. »Warten Sie,
ich bin gleich zurück.«
»Bleib du bei ihm.« Mitja nahm ihr das Taschentuch aus der
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