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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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fort, Klawdia Semjonowna.«
    »Ja, da ist nicht mehr viel zu sagen«, seufzte die Alte. »Ich sehe den Kinderwagen, wie er durch die Luft fliegt und lichterloh
     brennt.«
    »Und die Autos?«
    »Zu den Autos hab ich nicht rübergesehen. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht. Wie furchtbar, hab ich gedacht, der reinste
     Alptraum! Einen Augenblick später, und die Frau hätte ihr Kind in den Kinderwagen gesetzt. Sie waren ja schon auf dem Weg
     zur Bank. Was muß man nur für ein Unmensch sein, um eine Bombe in einen Kinderwagen zu legen!«
    »Klawdia Semjonowna, beschreiben Sie doch bitte möglichst genau die Frau, die aus dem grünen Auto gestiegen ist.«
    »Also, die sah so aus.« Die Alte krauste konzentriert die Stirn. »Nicht mehr jung. Aber auch noch nicht alt. So im mittleren
     Alter, etwa fünfzig, vielleicht auch etwas drunter. Groß, aber nicht ungewöhnlich groß.«
    »Gut. Wie war sie angezogen?«
    »Eine kurze braune Jacke. Mit Pelzkragen. Ein Halbpelz. Der Kragen war schwarz und zottelig. Auf dem Kopf hatte sie eine schwarze
     Wollmütze, eine gestrickte. Die Haare waren alle unter der Mütze. Ein dunkler Rock. Braun, glaube ich. Die Stiefel – genau
     weiß ich’s nicht mehr, ich meine, sie waren schwarz.«
    »Hatte sie etwas in der Hand?«
    »Nein. Die Hände hatte sie in den Taschen. Sie hatte gar nichts dabei, keine Taschen, keine Tüten.«
    »Und ihr Gesicht? Ich weiß, es ist schwer, das vom Fenster aus zu erkennen, aber trotzdem.«
    »Eigentlich gar keins«, meinte die Zeugin schulterzuckend.
    »Was heißt das, gar keins?« fragte der Einsatzleiter erstaunt.
    »Na, kein besonderes, ganz unauffällig und durchschnittlich. Gar keins.«
    Der Einsatzleiter stand auf, trat zum Fenster und winkte die Alte hinzu. Unten auf dem Parkplatz waren die Männer von der
     Spurensicherung bei der Arbeit. Der Einsatzleiter zeigte auf denjenigen, den man am besten erkennen konnte.
    »Was hat der da unten für ein Gesicht?«
    »Ein rundes, stupsnasiges«, erwiderte die Zeugin, ohne nachzudenken. »Das Gesicht eines Bauern. Dicke Lippen. Hat Ähnlichkeit
     mit einem Schauspieler. Ein guter Film war das, über den Krieg. ›Im Morgengrauen ist es noch still‹. Neulich lief der wieder
     mal im Fernsehen. Ich sehe mir unsere sowjetischen Filme immer an. Da kam ein Dorfältester vor, so ein herzensguter, schlichter
     Mann.Dem sieht er ähnlich. Das heißt, dem Schauspieler, der ihn spielte.«
    »Sie sollten bei der Miliz arbeiten«, lächelte der Einsatzleiter. »Vielleicht sah diese Frau auch irgendeiner Schauspielerin
     oder Fernsehansagerin ähnlich? Auf dem Weg vom Auto bis zur Bank hatte sie Ihnen ja das Gesicht zugewandt.«
    »Nein«, die Alte schüttelte den Kopf, »sie sah niemandem ähnlich.«
    »Würden Sie sie wiedererkennen, wenn Sie sie träfen?«
    Klawdia Semjonowna überlegte und sagte dann langsam:
    »Käme drauf an, was sie anhat.«
    »Wie war sie denn angezogen, teuer oder billig?«
    »Weder noch. Eher nicht so teuer. So mittelprächtig.«
     
    Der Einsatzleiter war schlecht gelaunt. Solche alten Rentnerinnen hatte er oft als Zeuginnen. Sie schauen den ganzen Tag aus
     dem Fenster oder sitzen auf der Bank vor der Haustür und sehen so mancherlei. Aber ihre Aussagen sind in der Regel widersprüchlich
     und verworren. Die alten Frauen sehen und hören schlecht, schwatzen gern über alles mögliche, was nicht zur Sache gehört.
     Die Arbeit mit solchen Zeugen ist schwer und ermüdend. Aber hier hatte ihm das Schicksal keine verkalkte Oma, sondern ein
     wahres Goldstück beschert. Um ihre scharfen Augen und ihre Beobachtungsgabe konnte man sie nur beneiden. Aber etwas Brauchbares
     war trotzdem nicht dabei herausgekommen.
    Im Protokoll des Verhörs stand die genaue Beschreibung der unbekannten Frau – mittleres Alter, mittlere Größe, normale Figur
     und »ohne Gesicht«. Wenn man das als Personenbeschreibung veröffentlichte, machte man sich zum Gespött der Stadt.
    Es gab noch eine weitere unbekannte Größe. Ziemlichschnell stellte sich heraus, daß das »bullige schwarze Auto mit Schnörkeln auf den Seiten« ein Jeep Cherokee war. Die Nachbarn
     aus dem Haus gegenüber hatten berichtet, daß vor ungefähr drei Monaten in der Wohnung Nr. 170 eine alleinstehende Dame eingezogen
     sei, »jung, hübsch, mit einem schicken bodenlangen Pelzmantel«. Eben diese »junge, hübsche Dame« pflegte der Unbekannte mit
     dem Jeep etwa drei- bis viermal pro Woche zu besuchen.
    Die Dame war zu Hause. Das

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