Die Leiden eines Chinesen in China
schlafend, durch Stahl oder Gift. Ich muß während der achtzigtausend Minuten, die mein Leben während dieser fünfundfünfzig Tage zählt, denken, hoffen oder fürchten können, daß ihm jeden Augenblick ein jähes Ende droht! Ich muß diese achtzigtausend Erregungen vor mir haben, um in dem Augenblicke, wenn sich die sieben Elemente meiner Seele von einander trennen, wenigstens sagen zu können: Endlich, endlich habe ich doch einmal gelebt!«
Kin-Fo hatte, ganz gegen seine Gewohnheit, mit einer gewissen Lebhaftigkeit gesprochen. Der Leser sieht auch, daß er die letzte Grenze seines Lebens auf sechs Tage vor dem Erlöschen der Police festsetzte. Er handelte dabei mit klugem Vorbedacht, da eine weitere Verzögerung ohne erneuerte Prämienzahlung seine Erben leicht ihrer jetzt berechtigten Ansprüche hätte berauben können.
Der Philosoph hatte ihm ernsthaft zugehört und dabei einige Seitenblicke auf das, seine Zimmerwand zierende Porträt des Kaiser Taï-Ping fallen lassen, von dem er ja noch nicht wußte, daß es ihm als Erbtheil zufallen sollte.
»Du wirst also vor der übernommenen Verpflichtung, mich zu tödten, auf keinen Fall zurückschrecken?« fragte Kin-Fo.
Wang deutete nur durch ein Zeichen an, daß das seine Sache nicht sei. Er erinnerte sich wohl so mancher Scenen aus der Zeit, da er unter dem Banner der Taï-Ping kämpfte. Er stellte aber doch noch einige Fragen, da er sich ohne Erschöpfung aller möglichen Einwürfe offenbar nicht verpflichten wollte.
»Du verzichtest also auf die Aussicht eines langen Lebens, das der »Wahre Meister« Dir schon von der Wiege an bestimmte?
– Ja gewiß!
– Ohne Bedauern?
– Ganz ohne Bedauern! bekräftigte Kin-Fo. Als Greis zu leben! Einem Stücke Holze zu gleichen, das Niemand mehr schneiden kann! Reich – würde ich das nicht wünschen; arm – mag ich es noch viel weniger!
– Und die junge Witwe in Peking? warf Wang ein. Vergaßest Du das Sprichwort: »Die Blume zur Blume!«, »Die Weide zur Weide!« Die Uebereinstimmung zweier Herzen schafft hundert Jahre Frühling!….
»Sterben!« wiederholte der Philosoph. (S. 70.)
– Gegen dreihundert Jahre Herbst, Sommer und Winter! bemerkte Kin-Fo achselzuckend dazu. Nein! Arm würde Le-U mit mir ebenfalls unglücklich sein. Mein Tod dagegen sichert ihr ein Vermögen.
– Das hättest Du gethan?
– Ja, und für Dich, Wang, sind auf meinen Namen ebenfalls fünfzigtausend Dollars eingeschrieben.
– Ah, erwiderte trocken der Philosoph, Du hast doch auf Alles eine Antwort.
Sonn war nicht der Mann zu widerstehen. (S. 76.)
– Ich denke auf Alles, selbst auf einen Einwurf, den Du noch nicht erhoben hast.
– Und der wäre?
– Ja…. die Dir drohende Gefahr, nach meinem Tode als Mörder erfolgt zu werden.
– O, meinte Wang, nur die Tölpel und Prahlhänse lassen sich einfangen. Welches Verdienst wäre es auch, Deinen Wunsch zu erfüllen, wenn ich dabei gar nichts zu wagen hätte?
– Nein, nein Wang! Ich ziehe es doch vor, Dich für alle Fälle sicherzustellen. Es soll Niemand einfallen können, Dich zu belästigen!« Mit diesen Worten ging Kin-Fo nach einem Tische, suchte ein Stück Papier und schrieb darauf folgende Worte in seinen, deutlichen Zügen: »Ich habe mir selbst aus eigenem freien Willen aus Lebensüberdruß den Tod gegeben. Kin-Fo.«
Diesen Zettel übergab er dem Freunde.
Der Philosoph las denselben erst für sich, dann noch einmal laut. Darauf faltete er das Papier sorglich zusammen und steckte es in ein Taschenbuch, das er stets bei sich trug.
Noch einmal leuchtete sein Auge heller auf.
»Das ist Alles wirklich Dein Ernst? fragte er mit einem forschenden Blicke auf seinen früheren Schüler.
– Vollkommen.
– Ich nehme es also ganz ebenso an.
– Ja – Du versprichst mir….?
– Gewiß.
– Also, vor dem fünfundzwanzigsten Juni werde ich aufgehört haben zu leben?
– Ich weiß nicht, ob Du in dem Sinne, wie Du es verstehst, gelebt haben wirst, antwortete sehr ernsthaft der Philosoph, auf jeden Fall aber wirst Du todt sein!
– Ich danke Dir, und nun leb’ wohl, Wang.
– Leb’ wohl, Kin-Fo.«
Damit verließ Kin-Fo beruhigt das Zimmer des Philosophen.
Neuntes Capitel.
Dessen Schluß, so eigenthümlich er auch erscheinen mag, den Leser doch vielleicht nicht überraschen dürfte.
»Nun, wie steht’s, Craig-Fry? fragte am folgenden Tage der ehrenwerthe William J. Bidulph zwei seiner Agenten, welche speciell den Auftrag erhalten hatten, den neuen
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