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Die Leiden eines Chinesen in China

Die Leiden eines Chinesen in China

Titel: Die Leiden eines Chinesen in China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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als eben jetzt.
    Jedenfalls aber blieben Craig und Fry nach wie vor beauftragt, sich über Alles, was ihr Client vornahm, auf dem Laufenden zu erhalten, und ihm auch bei seinen Spaziergängen zu folgen, da er ja möglicher Weise außer dem Hause Hand an sich legen könnte.
    Die beiden Unzertrennlichen erfüllten ihre Pflicht. Sonn bediente sie mit den gewünschten Nachrichten, und das um so reichlicher, weil er in dem Gespräche mit den beiden liebenswürdigen Herren seinen klingenden Vortheil fand.
    Es wäre zu weit gegangen, wenn man behaupten wollte, der Held dieser Erzählung habe von der Zeit an mehr am Leben gehangen, als er den Entschluß gefaßt hatte, sich desselben zu entledigen. Dagegen fehlte es ihm, mindestens während der ersten Tage, nicht an der erhofften Erregung. Er hatte sich ein Damokles-Schwert über den Schädel gehängt, das eines Tages auf sein Haupt herabfallen sollte. Ob heute, morgen, heute Morgen, heut’ Abend – darüber blieb er ungewiß, das verursachte ihm ein bisher nicht gekanntes Herzklopfen.
    Dazu traf er mit Wang seit den zuletzt gewechselten Worten nur ganz flüchtig zusammen. Einestheils verließ der Philosoph das Haus häufiger als sonst, anderentheils schloß er sich enger in seinem Zimmer ab. Kin-Fo suchte ihn nicht auf – das paßte nicht zu ihrer Verabredung – und bekümmerte sich absichtlich nicht darum, auf welche Weise Wang seine Zeit hinbrachte. Vielleicht bereitete er dem Schüler eine unerwartete Falle? Ein alter Taï-Ping konnte ja nicht in Verlegenheit kommen, einen Menschen auf diese oder jene Weise in’s Jenseits zu befördern. Das erregte aber seine Neugier und erweckte folglich ein gewisses Interesse.
    Bei Tische trafen Lehrer und Schüler dagegen tagtäglich zusammen. Natürlich vermied man dabei jede Hindeutung auf ihr zukünftiges Verhältniß des Mörders und des Opfers. Sie plauderten von dem und jenem – im Ganzen nur wenig. Wang wandte gern die Augen ab, welche seine Brillengläser nicht vollständig verbargen, und schien an einer fortwährenden Beklemmung zu leiden. Sonst voll guter Laune und mittheilsamer Natur, war er traurig und wortkarg geworden. Früher ein tüchtiger Esser, und, wie jeder Philosoph, glücklicher Besitzer eines gesunden Magens, reizten ihn jetzt die köstlichsten Gerichte nicht mehr und ließ er den herrlichen Wein von Chao-Chigne fast unberührt.
    Jedenfalls machte es Kin-Fo ihm bequem. Er kostete zuerst von jeder Schüssel und hielt sich für verpflichtet, nichts wieder abtragen zu lassen, ohne es wenigstens berührt zu haben. Kin-Fo verzehrte in Folge dessen mehr als sonst, sein früher gewissermaßen gelähmter Gaumen bekam wieder einige Geschmacksempfindung, er aß wirklich mit gutem Appetit und verdaute vortrefflich. Offenbar war Gift die Waffe nicht, welche der alte Haudegen des Rebellenkönigs für ihn erwählt, doch durfte dessen Opfer deshalb keine Möglichkeit vernachlässigen.
    Wang war es ja so leicht als möglich gemacht, seine Aufgabe zu vollenden. Die Thür zu Kin-Fo’s Schlafzimmer z.B. blieb fortwährend offen. Tag und Nacht fand der Philosoph hier ungehindert Eintritt und konnte jenen schlafend oder wachend abthun. Kin-Fo wünschte dabei nur, daß seine Hand rasch sei und ihn gut in’s Herz treffe.
    Kin-Fo genoß zwar zuerst die erwünschte Aufregung, nach wenigen Nächten aber hatte er sich schon so sehr an diese Erwartung des Todesstoßes gewöhnt, daß er trotzdem den Schlaf des Gerechten schlief und am Morgen frisch und munter erwachte. Das durfte nicht so fortgehen.
    Da kam ihm der Gedanke, es möchte Wang’s Gefühl widerstreben, ihn in demselben Hause zu tödten, in dem er lange Jahre hindurch eine so gastliche Aufnahme gefunden. Er beschloß also, es jenem noch bequemer zu machen. Nun durchstreifte der Lebensmüde die Umgebungen, suchte einsame Orte auf oder verweilte bis zur vierten Wache in den berüchtigtsten Straßen Shang-Haïs, wahren Mördergruben, wo fast alltäglich Mordthaten mit größter Sicherheit ausgeführt wurden. Er irrte durch die engen, dunklen Gassen, stieß zuerst mit Trunkenbolden jeder Nationalität zusammen, oder befand sich während der letzten Nachtstunden fast allein, wenn die Brotkuchen-Verkäufer ihr »Mantou! Mantou!« ausriefen und dazu klingelten, um die schlaftrunkenen Opiumraucher zu ermuntern. Nach der Wohnung kehrte er erst mit dem Frühroth heim, und immer heil und gesund, ja im besten Wohlbefinden, selbst ohne die unzertrennlichen Craig und Fry gesehen zu

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