Die Leidenschaft des Cervantes
Innenhof, auf dem sich Hunderte von Männern aufhielten, waren auf zwei Ebenen zahlreiche Räume angeordnet.
Trotz meiner Müdigkeit ließ ich mich durch die Menge treiben. Viele der Sprachen, die hier gesprochen wurden, erkannte ich – offenbar teilten sich die Gefangenen nach Nationalitäten auf: Engländer, Franzosen, Griechen, Italiener, Portugiesen und Albaner. Andere unterhielten sich in Sprachen, die mir fremd waren.
Auf dem Boden hockte eine große Anzahl von Spaniern bei einem Glücksspiel. Meine Mitgefangenen von der Sol näherten sich zögernd unseren Landsleuten. Ich verfolgte die Szene, war mir unsicher, was ich tun sollte. Wenn sich unter den einsitzenden Spaniern irgendwelche Edelleute befanden, so hatte die Sklaverei sie zu gewissenlosen Denunzianten werden lassen. Mir mussten sobald wie möglich Augen im Hinterkopf wachsen.
Einer der Spieler, die im Kreis am Boden saßen und würfelten, rief: »He du da, wie heißt du? Wo haben sie dich erwischt?«
Sobald ich die Frage beantwortet hatte, wandten sich die Spieler wieder ihren Würfeln zu. Meine schmerzenden Beine, die mit Blasen übersäten Füße verlangten, dass ich mich auf den kalten Boden setzte. Ich schlang mir die Decke, die wir am Kai bekommen hatten, um die Schultern, zog die Knie an, legte den Kopf darauf und schloss die Augen. So saß ich da, als jemand mich ansprach.
»Seid Ihr der Sohn von Don Rodrigo Cervantes?«
Ein kleiner Mann mit kugeligem Bauch und kurzen Beinen stand vor mir, seine bloßen Füße starrten vor Schmutz. Er lächelte, und sofort bekam sein Gesicht einen schelmischen Ausdruck. Es war die Miene eines Menschen, der zu überleben versteht.
»Ich kannte Euch, als Ihr noch ein sehr junger Mann wart«, sagte er. »Ich heiße Sancho Panza und bin ein Sohn der illustren Stadt Esquivias, mitten in der Mancha gelegen. Der Ort ist berühmt wegen der fetten, schmackhaften Linsen, die dort wachsen, und des besten, medizinisch wirksamsten Weins. Der, falls Ihr das nicht wissen solltet, der Einzige ist, den unser erlauchter König trinkt.« Er hockte sich mir gegenüber hin.
Das erschien mir zwar alles unvorstellbar, aber den Namen meines Vaters zu hören, hob meine Stimmung. »Woher kennt Ihr meinen Vater, Señor Sancho?«
»Don Rodrigo hat mich verarztet, als ich kein Geld hatte. Nach dem Tod meines Herrn, seines Hochwohlgeborenen, des Grafen von Ordoñez, warfen seine widernatürlichen Kinder mich auf die Straße, obwohl ich ihrem Vater länger gedient hatte, als sie am Leben waren.« Sancho seufzte. »Vorbei und vergessen«, sagte er und rieb sich die Augen, als wollte er sich vergewissern, dass ich noch da säße. »Ihr habt damals am Estudio de la Villa studiert und wart noch ein junger Bengel. Ihr habt Euch sehr verändert, ich hätte Euch nicht erkannt. Doch als ich Euch Euren Namen sagen hörte, war mir klar, dass Ihr Don Rodrigos Sohn sein müsst. Ihr seht aus, als wärt Ihr aus demselben Holz geschnitzt.«
Es tat mir gut, mit jemandem zu sprechen, der meinen Vater kannte. So erschöpft ich war, dieser seltsame Mensch heiterte mich auf. Vielleicht konnte er mich für eine kurze Weile in glücklichere Zeiten zurückversetzen.
»Euer Vater war sehr stolz auf Euch«, fuhr er fort. »Wusstet Ihr, dass er seinen Patienten Eure Gedichte vortrug? Das Sonett, für das Ihr den Preis bekommen habt – das muss ich an die hundert Mal gehört haben. Und jedes Mal, wenn Don Rodrigo es zu Ende rezitiert hatte, sagte er: ›Meine Freunde, Ars longa, vita brevis .‹ Eines Tages fragte ein Patient, der ein brandiges Bein hatte, das einfach nicht besser wurde, so viele Blutegel Euer Vater ihm auch ansetzte, was diese Worte denn bedeuteten.
›Das sind die Worte des großen Vergil‹, sagte Don Rodrigo.
›War Vergil ein Wundarzt?‹, fragte der Mann.
›Mein Freund‹, antwortete Euer Vater, als redete er mit einem Kind. Er wirkte überrascht, dass es wirklich jemanden geben sollte, der Vergil nicht kannte – Don Miguel, ich kannte einen Vergil in Esquivias, aber ich glaube nicht, dass Euer ehrenwerter Vater den meinte, denn der Vergil aus Esquivias war ein Metzger –, ›das sind die einzigen Worte, die wir uns zu merken brauchen: Die Kunst währt ewig, das Leben ist kurz . Vergil war ein Dichter – ein Wundarzt der Seele.‹
Da rief der Patient: ›Und das glaubt Ihr, Don Rodrigo, ein Bader – dass das Leben kurz ist? Kein Wunder, dass mein Bein hier ständig weiter fault!‹ Kaum hatte er das gesagt, rollte er von
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