Die Leidenschaft des Cervantes
die Morgenstund Gold im Mund hat. Sobald morgen früh von der Moschee der erste Ruf zum Gebet erschallt – den könnt Ihr nicht überhören, er klingt wie ein Mann, der sich seit einem Monat zu erleichtern versucht, aber immer noch vergebens – und sich die Tore des bagnio öffnen, gehen wir zum Hafen hinunter, um die Fischer zu empfangen, die bei Sonnenaufgang zurückkehren. Die Fische, die sie nicht haben wollen, werfen sie den Hunden zum Fraß vor oder ins Meer zurück. Wenn sie keine Fische zum Wegwerfen haben, gibt es immer noch reichlich Seeigel.« Sancho verzog das Gesicht. »In Spanien hätte ich solche Ekligkeiten nicht gegessen, aber dort mangelte es mir auch nie an einem Kanten Brot, einem Stück Käse und einer Zwiebel. Und wenn es keine Pferde gibt, satteln wir eben Hunde.« Er fügte hinzu: »Für Euch wird es schwer werden, mit einem lahmen Arm zu überleben.« Sancho hielt den Kopf zwischen die Hände, dann lächelte er. »Dichtet Ihr noch? Das hoffe ich. Für Dichter ist Algier der beste Platz auf Erden. Diese grausamen Mauren achten nur zwei Sorten Mensch: Verrückte und Poeten. Nach ihrer wirren Religion sind Dichter und locos von Gott gesegnet und müssen geachtet werden, da sie in ständiger Verbindung mit Ihm stehen.«
Ich fragte mich, mit welchen Weisheiten dieser Dicke mich noch überraschen würde.
Sancho erhob sich. »Die Leute des Aufsehers sammeln die Gebühr ein, damit man drinnen in einem der Räume schlafen kann. Wer nicht genug Geld für einen solchen Platz hat, muss hier draußen mit dem Himmel als Decke nächtigen. Leider habe ich heute Abend kaum genug für meinen eigenen Platz. Wie oft habe ich nicht schon hier draußen mein Nachtlager aufgeschlagen.«
Alles, was ich besaß, waren die Eisenringe um meine Fußgelenke – die nicht mir gehörten – und die Kleidung, die mir um den abgemagerten Körper hing.
»Bleibt hier, ich hole Euch eine zusätzliche Decke. In dieser Jahreszeit werden die Nächte ziemlich frisch.«
Seinem beleibten Umfang zum Trotz sprang Sancho mit der Behendigkeit eines Tänzers auf und lief im Zickzack zwischen der Menge davon.
Der algerische Himmel schimmerte im Mondlicht. Ich schloss meine müden Augen und war schon halb eingeschlafen, als ich ein gespenstisches Klagen hörte, begleitet von einer Flöte. Es war eine Elegie, die nicht an die Menschen gerichtet war, sondern an den Himmel: der spätabendliche Gebetsruf, der von der Moschee herübertrieb. Die traurige Stimme stieg wie ein unsichtbarer Drache von der Spitze des Minaretts in den blauschwarzen, von Sternen überzuckerten afrikanischen Himmel auf. Eine abgrundtiefe Erschöpfung überwältigte mich, eine Mattigheit demgegenüber, was ich als Fluch meines unglückseligen Schicksals zu begreifen begann. Ich sah meine Seele meinen Körper verlassen und über eine glasige, trübselige See treiben, eine See ohne Küste. Der erste Tag meines Lebens als Gefangener ging zu Ende.
KAPITEL 4
MEIN TODFEIND
Luis
1576
Alle Dinge verändern sich, und wir verändern uns mit ihnen. Es fiel mir schwer zu glauben, dass die warme Zuneigung, die ich während unserer Schulzeit in Madrid für Miguel empfunden hatte, zu Feindseligkeit geworden war. Die Botschaft unseres Erlösers lautet zwar, denen, die uns verletzen, zu verzeihen, doch in meinem Herzen brodelte es vor schwarzem Hass, ich konnte nicht verhindern, dass es versteinerte. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, sah ich aus wie früher, doch meine Seele war nicht mehr die des Edelmannes und Christen, als der ich mich ausgab. Kein Licht funkelte mehr in meinen Augen. Der Verrat meines besten Freundes zeigte mir, dass sich Hass, wie Liebe, nicht beherrschen lässt, ein Gefühl, das in mir lebte und wucherte wie ein unersättlicher Inkubus, den ich nicht exorzieren konnte. Wie ich feststellte, kann Hass Liebe überdauern.
Als Miguel mir aus Rom schrieb, war ich erleichtert. Ich hatte gewonnen. Was die Augen nicht sehen können, vermag das Herz nicht zu fühlen. Das Sprichwort hatte etwas Wahres. Miguel war weit genug entfernt, um keine unmittelbare Bedrohung für mein Glück mit Mercedes darzustellen. Die Episteln, die er mir in der Zeit schickte, während er für den Kardinal arbeitete, blieben unbeantwortet. Sie enthielten nichts als Anekdoten über die schillernden – und bedeutenden – Persönlichkeiten, die er in Rom kennenlernte, hochfahrende Bemerkungen über die italienischen Dichter, die er in der Sprache Dantes las, schwärmerische
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