Die leise Stimme des Todes (German Edition)
angesichts ihrer Krankheit der Grund, warum Katherine letztendlich Medizin studiert hatte. Krankheit und Tod ängstigten sie, aber als Ärztin hatte sie ein gewisses Maß an Kontrolle darüber. Allzu oft allerdings war diese Kontrolle nicht mehr als eine Illusion, und selbst ihre Tätigkeit als Chirurgin bot dann keinen Schutz mehr vor den Ängsten, die sie überfielen.
Ich habe jeden Tag mit dem Tod zu tun, versuchte sich Katherine selbst zu beruhigen. Es ist ein Wettkampf. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Heute habe ich einen Patienten verloren, aber andere Menschen kann ich retten .
Dieser Gedanke tröstete sie ein wenig. Aber warum musste es ausgerechnet Manfred Weber treffen?
„Ich habe in zehn Minuten eine Operation“, stellte Katherine überflüssigerweise fest.
„Ja ... Ich dachte, Sie wollen gleich Bescheid wissen“, entschuldigte sich Sabine Jenssen. „Ich wollte nicht ...“
„Schon gut. Danke, dass Sie es mir gesagt haben.“
Mit einem Seufzen hängte sie den Hörer ein. Es war höchste Zeit, in den OP zu gehen.
Mark Keller sah den Lieferwagen zu spät, um noch ausweichen zu können. Wie ein dunkler Schatten, der sich schließlich in ein Ungetüm aus Metall verwandelte, raste das Fahrzeug näher. Keller reagierte blitzschnell, griff hart in die Bremse und verlagerte das Gewicht im Sattel.
Dann war der Lieferwagen heran, erfasste sein Vorderrad, wirbelte ihn wie eine Schneeflocke im Wind herum. Mark fühlte, wie er aus dem Sattel geschleudert wurde. Mit einem grässlichen Geräusch geriet das Fahrrad unter die Räder des Fahrzeugs. Die Welt bestand für einen kurzen Moment aus blauem Himmel, der in das Grau des Asphalts überging, als Mark hart auf die Straße prallte, sich überschlug und schließlich regungslos liegen blieb.
Er war nicht bewusstlos. Im Gegenteil, all seine Sinne waren aufs Äußerste geschärft. Er hörte, wie der Wagen, der ihn gerammt hatte, mit aufheulendem Motor davonjagte und kurz darauf mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße einbog.
Eine merkwürdige Leichtigkeit erfasste seinen Körper, gab ihm das Gefühl, als würde er schweben. Er spürte keinen Schmerz, konnte sich nicht bewegen, aber eigentlich wollte er das auch nicht. Nein, es war gut so, wie es war. Über ihm der grenzenlose Himmel, dessen herrliches Blau von keiner Wolke gestört wurde. Die Sonne schien und erwärmte den Asphalt in seinem Rücken. So lag er da, zufrieden, ohne Angst oder Schmerzen, bis schließlich das Blau des Himmels in ein tiefes Schwarz überging und er ins Nichts glitt.
2. Kapitel
Beide Operationen waren erfolgreich verlaufen. Erwin Tenkendorf hatte sein neues Herz bekommen und seine Werte waren zufriedenstellend. Katherine nahm sich vor, mit ihm ein Gespräch über gesunde Lebensweise zu führen, sobald er vollkommen genesen war. Die moderne Medizin war kein Ersatzteillager für Organe, die Menschen in Anspruch nahmen, nachdem sie Schindluder mit ihrem Körper getrieben hatten. Organspender waren selten, und die Organe sollten den Patienten vorbehalten bleiben, die aufgrund von Krankheit oder Geburtsfehlern keine andere Möglichkeit hatten, einen normalen Gesundheitszustand zu erreichen.
Auch Tomic würde sich nun, da der rechte Lungenflügel entfernt war, bald erholen. Alles in allem ein guter Tag, wenn nicht Manfred Weber so überraschend gestorben wäre. Es war nicht nur der Gedanke, dass dieser lebenslustige Mensch tot war, der Katherine beschäftigte, es war vor allem der Umstand, wie er gestorben war. Es wollte Katherine einfach nicht in den Kopf, dass er Selbstmord begangen haben sollte. Eine derartige Tat passte nicht zu dem Mann, den sie über zwei Jahre medizinisch betreut hatte.
Weber war mit einer bezaubernden, etwas unscheinbaren Frau verheiratet, die alle Lebenslagen mit ihm gemeinsam gemeistert hatte. Er war Vater von zwei prächtigen Söhnen, einer von ihnen studierte Jura, der andere arbeitete als Betriebswirt bei einem großen Konzern. Seine Söhne waren verheiratet, hatten eigene Kinder, die Manfred Weber über alles liebte. Dieser Mann, ein Mensch, der mit beiden Beinen fest im Leben stand, von seiner Familie geliebt wurde, sollte sich umgebracht haben? Und das so kurz vor der Operation, von der er sich soviel versprochen hatte?
Ich begreife es nicht .
Während sich Katherine umzog, die Operationskleidung ablegte und in eine bequeme Jeans und ein weiches Sweatshirt schlüpfte, kreiste dieser Gedanke in ihrem Kopf. Es war nicht
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