Die Leopardin
Willi Weber auf. Hinter ihm her trottete Becker wie ein Bluthund an der Leine. Weber wandte sich an Franck: »Wie sind Sie hier reingekommen?«, blaffte er ihn an.
»Einfach so hereinspaziert«, erwiderte Franck. »Ihre Sicherheitsvorkehrungen stinken zum Himmel.«
»Lächerlich! Sie haben doch selber gerade gesehen, wie wir einen Großangriff abgewehrt haben!«
»Ausgeführt von einem Dutzend Männern und ein paar Mädchen.«
»Wir haben sie besiegt, das allein zählt!«
»Denken Sie doch mal genau darüber nach«, sagte Franck nüchtern. »Die Feinde konnten sich in unmittelbarer Nähe versammeln, ohne dass Sie davon etwas mitbekamen. Es gelang ihnen, auf das Gelände des Schlosses vorzudringen und mindestens sechs gute deutsche Soldaten zu töten. Wahrscheinlich haben Sie nur deshalb die Oberhand behalten, weil der Gegner Sie zahlenmäßig unterschätzt hat. Und was mich betrifft, so bin ich ohne jede Kontrolle hier ins Kellergeschoss gekommen, weil der Wachhabende seinen Posten verlassen hatte.«
»Ein tapferer deutscher Soldat. Er wollte mitkämpfen.«
»Gott im Himmel!«, rief Franck verzweifelt. »Ein Soldat in der Schlacht verlässt nicht seinen Posten, weil er mitkämpfen will! Er hält sich an seine Befehle!«
»Ich brauche mich von Ihnen nicht über die Grundlagen der militärischen Disziplin belehren zu lassen.«
Franck gab es auf, vorerst. »Das habe ich auch gar nicht vor.«
»Was dann?«
»Ich werde jetzt die Gefangenen verhören.«
»Das ist die Aufgabe der Gestapo.«
»Seien Sie kein Idiot. Generalfeldmarschall Rommel hat mich – und nicht die Gestapo – gebeten, die Schlagkraft der Resistance einzudämmen, damit sie im Fall einer Invasion nicht mehr imstande ist, seine Verbindungswege zu sabotieren. Diese Gefangenen können mir unschätzbare Informationen geben. Es ist daher meine feste Absicht, sie zu verhören.«
»Nicht solange sie sich in meinem Gewahrsam befinden«, erwiderte Weber stur. »Ich werde die Vernehmungen selbst durchführen und die Ergebnisse dann an den Generalfeldmarschall weiterleiten.«
»Mit der Invasion ist noch in diesem Sommer zu rechnen. Meinen Sie nicht, es wäre allmählich Zeit, mit solchen Hahnenkämpfen aufzuhören?«
»Eine gut funktionierende Organisation gibt man nie auf.«
Franck hätte schreien können. In seiner Verzweiflung schluckte er seinen Stolz herunter und versuchte es mit einem Kompromiss. »Dann verhören wir sie halt gemeinsam.«
Weber lächelte. Er spürte, dass er gewonnen hatte. »Kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Das heißt, ich muss an höherer Stelle intervenieren.«
»Wenn Ihnen das gelingt.«
»Natürlich gelingt mir das. Das Einzige, was Sie mit Ihrer Sturheit erreichen werden, ist eine Verzögerung.«
»Das behaupten Sie.«
»Sie Vollidiot!«, platzte es aus Franck heraus. »Gott bewahre unser Vaterland vor Patrioten wie Ihnen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging hinaus.
Gilberte und Flick hatten Sainte-Cecile hinter sich gelassen und fuhren auf einer kleinen Nebenstraße nach Reims. Gilberte fuhr so schnell, wie es ihr auf der schmalen Fahrbahn möglich war, und Flick spähte besorgt durch die Windschutzscheibe und musterte das Gelände vor ihnen. Die Straße führte gemächlich über die Dörfer und schlängelte sich hügelauf, hügelab zwischen Weinbergen durch die Landschaft. Es gab viele Kreuzungen, weshalb man nicht allzu schnell vorankam, doch hatten die zahlreichen Abzweigungen den Vorteil, dass die Gestapo nicht auf jeder Straße, die aus Sainte- Cecile hinausführte, Sperren errichten konnte. Dennoch biss sich Flick auf die Lippen und fürchtete, sie könnten aus purem Zufall einer Patrouille begegnen und angehalten werden. Für einen Mann, der mit einer blutenden Schussverletzung auf dem Rücksitz lag, hatte sie keine Erklärung.
Inzwischen war ihr klar, dass sie Michel nicht nach Hause bringen konnten. Nach der Kapitulation Frankreichs im Jahr 1940 war Michel demobilisiert worden. Er war jedoch nicht auf seinen Dozentenposten an der Sorbonne zurückgekehrt, sondern in seine Heimatstadt, um dort die Stelle eines stellvertretenden Lyzeumsdirektors anzunehmen und – sein eigentliches Motiv – eine Zelle der Resistance zu organisieren. Er wohnte unweit der Kathedrale im Haus seiner verstorbenen Eltern, einem ganz entzückenden Gebäude. Aber dort konnte er jetzt nicht hin; es war einfach zu bekannt. Oft hatten Resistance-Mitglieder keine Ahnung, wo ihre Mitstreiter wohnten – aus
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