Die Leopardin
davonlaufen, so nervös war er.«
»Seit er verheiratet ist, hat er Angst«, sagte Michel. »Aber wenn’s um mich geht, wird er kommen.«
Flick nickte. Für Michel machten viele Leute eine Ausnahme. »Gilberte, fahr los und hol Dr. Bouler.«
»Ich würde lieber hier bei Michel bleiben.«
Flick stöhnte innerlich. Figuren wie Gilberte taugten allenfalls für Botengänge – und selbst dabei machten sie Schwierigkeiten. »Bitte tu, was ich dir sage«, erwiderte sie mit Bestimmtheit. »Ich muss mit Michel noch unter vier Augen sprechen, bevor ich nach London zurückkehre.«
»Und was ist mit der Ausgangssperre?« »Wenn man dich anhält, sag, dass du auf dem Weg zum Arzt bist. Diese Ausrede wird meistens akzeptiert. Kann sein, dass man dich zu Claudes Wohnung begleitet, um festzustellen, ob du die Wahrheit sagst. Aber hierher wird dir niemand folgen.«
Gilberte schien das wenig zu überzeugen, aber sie zog sich eine Strickjacke über und ging.
Flick setzte sich auf die Lehne von Michels Sessel und küsste ihn. »Das war eine Katastrophe heute«, sagte sie.
»Ich weiß«, brummte er voller Abscheu. »Das war also der MI6. Der Gegner muss doppelt so viele Männer gehabt haben, wie man uns gesagt hat.«
»Diesen Clowns glaube ich kein Wort mehr.«
»Wir haben Albert verloren. Ich muss es seiner Frau beibringen.«
»Ich fliege noch heute Nacht nach London zurück und schicke dir einen anderen Funker.«
»Danke.«
»Du musst herausfinden, wer sonst noch tot ist – und wer überlebt hat.«
»Ich werde mein Bestes tun«, seufzte Michel. »Wenn ich kann.«
Sie nahm seine Hand. »Wie fühlst du dich?«
»Wie ein Idiot. Eine Kugel an der Stelle – das ist so würdelos.«
»Und wie geht es dir – physisch, meine ich?«
»Mir ist ein bisschen schwindlig.«
»Du brauchst was zu trinken. Mal sehen, was Gilberte hat.«
»Ein Scotch wäre jetzt nicht schlecht.« Flicks Londoner Freunde hatten Michel vor dem Krieg auf den Geschmack von Whisky gebracht.
»Aber auch ein bisschen stark.« In einer Ecke des Zimmers befand sich eine Kochnische. Flick öffnete einen Schrank und entdeckte darin zu ihrer Verblüffung eine Flasche Dewar’s White Label. Britische Agenten brachten oft Whisky mit – zur Eigenversorgung und für ihre Waffenbrüder. Bei einer jungen Französin wirkte er irgendwie fehl am Platz. Neben dem Whisky stand eine angebrochene
Flasche Rotwein – für einen Verwundeten sicher bekömmlicher. Flick schenkte ein Glas halb voll und füllte es mit Leitungswasser auf. Michel trank gierig; der Blutverlust hatte ihn durstig gemacht. Er leerte das Glas, ohne es abzusetzen. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen.
Flick hätte gerne einen Scotch gehabt, doch kam es ihr unfair vor, Michel den Whisky zu versagen und ihn dann selbst zu trinken. Außerdem brauchte sie auch weiterhin einen klaren Kopf. Du bekommst deinen Drink schon noch, ermahnte sie sich – aber erst, wenn du wieder britischen Boden unter den Füßen hast.
Sie blickte sich im Zimmer um. An den Wänden hingen ein paar kitschig-sentimentale Bilder. Ein Stapel alter Modehefte fiel ihr auf. Bücher fehlten. Sie warf einen Blick ins Schlafzimmer.
»Was hast du vor?«, fragte Michel scharf.
»Ich sehe mich nur etwas um.«
»Findest du das nicht ein bisschen unhöflich, in ihrer Abwesenheit hier herumzuschnüffeln?«
Flick zuckte mit den Schultern. »Nein, eigentlich nicht. Wie auch immer, ich muss mal auf die Toilette.«
»Die ist draußen. Die Treppe runter und dann den Flur lang bis zum Ende, soweit ich mich erinnere.«
Flick folgte seinen Angaben. In der Toilette wurde ihr klar, dass irgendetwas sie beunruhigte, irgendetwas an Gilbertes Wohnung. Sie geriet ins Grübeln. Auf ihre Gefühle und Eingebungen konnte sie sich verlassen: Sie hatten ihr schon mehrmals das Leben gerettet. Als sie wieder in die Wohnung kam, sagte sie zu Michel: »Irgendwas ist hier faul. Aber was?«
Er hob die Schultern. Das Thema behagte ihm nicht. »Keine Ahnung.«
»Du kommst mir ein bisschen gereizt vor.«
»Könnte vielleicht damit zusammenhängen, dass ich heute bei einer Schießerei was abgekriegt habe.«
»Nein, nein, damit hat das nichts zu tun. Es ist diese Wohnung hier.« Es hatte etwas mit Gilbertes Befangenheit zu tun, mit dem Whisky und mit der Tatsache, dass Michel wusste, wo sich die Toilette befand. Flick ging ins Schlafzimmer und sah sich etwas genauer um; diesmal machte ihr Michel keine Vorhaltungen. Auf dem Nachttischchen stand das
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