Die Leopardin
Sicherheitsgründen wurden Adressen nur genannt, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, für bestimmte Lieferungen etwa oder konspirative Treffen. Bei Michel lagen die Dinge anders: Er war der Chef, und die meisten kannten seinen Wohnsitz.
Für Flick stand außer Frage, dass einige Mitglieder des Kommandos in Sainte-Cecile lebend in die Hände des Feindes gefallen waren. Anders als britische Agentinnen und Agenten trugen die Angehörigen der Resistance keine Selbstmordpillen mit sich. Bei Verhören gab es nur eine einzige Regel, auf die man sich verlassen konnte: Über kurz oder lang packte jeder aus, ohne Ausnahme. Manchmal verlor die Gestapo die Geduld, und manchmal brachte sie ihre Opfer vor lauter Übereifer zu früh um, doch wenn die Verhörspezialisten vorsichtig und entschlossen zu Werke gingen, brachten sie auch die stärkste Persönlichkeit dazu, ihre besten Freunde zu verraten. Niemand konnte Schmerzen unbegrenzt ertragen.
Flick musste daher davon ausgehen, dass Michels Wohnung dem Feind bekannt war, im schlimmsten Fall bereits jetzt, ansonsten in Bälde. Wohin also konnte sie ihn stattdessen bringen?
»Wie geht es ihm?«, fragte Gilberte besorgt.
Flick sah sich nach Michel um. Seine Augen waren geschlossen, doch er atmete normal. Er war eingeschlafen – das Beste, was ihm passieren konnte. Sie betrachtete ihn liebevoll. Er brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte, zumindest in den nächsten ein, zwei Tagen. Sie wandte sich Gilberte zu. Jung und unverheiratet, wie sie war, lebte sie wahrscheinlich noch bei ihren Eltern. »Wo wohnst du?«, fragte sie.
»In der Route de Cernay am Stadtrand.«
»Allein?«
Aus irgendeinem Grund schien es Gilberte plötzlich mit der Angst zu tun zu bekommen.
»In einem Haus, einer Wohnung, einem möblierten Zimmer?«
»In einer Zweizimmerwohnung.«
»Gut. Fahr dort hin.«
»Nein!«
»Warum nicht? Hast du Angst?«
Gilberte wirkte gekränkt. »Nein, nein. Keine Angst!«
»Was dann?«
»Ich traue den Nachbarn nicht.«
»Gibt es einen Hintereingang?«
»Ja«, erwiderte Gilberte zögernd. »Es gibt da einen kleinen Durchgang, an einer kleinen Fabrik vorbei.«
»Klingt geradezu ideal.«
»Na gut, du hast ja Recht, fahren wir zu mir nach Hause. Du. Du hast mich nur überrascht, das ist alles.«
»Tut mir leid.«
Flicks Plan sah noch für den gleichen Abend ihre Rückkehr nach London vor. Das Flugzeug, das sie abholen sollte, würde auf einer Wiese in der Nähe des Dorfes Chatelle landen, knapp zehn Kilometer nördlich von Reims. Ob es der Pilot tatsächlich schaffen würde, stand auf einem anderen Blatt. Wenn man sich bei der Navigation nur an den Sternen orientieren konnte, war es außerordentlich schwierig, ein bestimmtes Feld in der Nähe eines kleinen Dorfes zu finden. Oft verflogen sich die Piloten – ja, eigentlich war es ein Wunder, wenn sie überhaupt ihre Zielorte erreichten. Viel hing vom Wetter ab. Flick betrachtete prüfend den Horizont. Das tiefe Blau des Abends senkte sich allmählich über den klaren Himmel. Bald würde der Mond scheinen – vorausgesetzt, das Wetter hielt.
Wenn nicht heute, dann morgen, dachte sie. Wie immer.
In ihren Gedanken war sie wieder bei den Kameraden, die sie zurückgelassen hatte. Ob der junge Bertrand noch lebte?
Und Genevieve? Vielleicht war der Tod die bessere Lösung für sie, denn wenn sie noch am Leben waren, wartete die Folter auf sie. Die Erkenntnis, dass sie selbst es gewesen war, die die anderen in diese Niederlage geführt hatte, brachte Flick fast zum Wahnsinn. Bertrand war wahrscheinlich in mich verliebt, dachte sie. Jung, wie er war, plagte ihn vermutlich sogar das Gewissen, weil er heimlich die Frau seines Kommandeurs liebte. Hätte ich ihm doch befohlen, zu Hause zu bleiben! Am Verlauf der Aktion hätte sich dadurch nichts geändert. Nur wäre Bertrand ein wenig länger der helle, liebenswerte Bursche geblieben, der er war – anstatt eine Leiche oder Schlimmeres.
Niemand konnte immer nur Erfolg haben. Wenn im Krieg die Führung versagte, gab es Tote, das war die harte Wirklichkeit. Trotzdem suchte Flick verzweifelt nach Trost. Gab es nicht irgendeine Möglichkeit, darauf hinzuwirken, dass die Leiden der Kameraden nicht umsonst waren? Vielleicht konnte man auf ihrem Opfer aufbauen und am Ende doch einen wie auch immer gearteten Sieg davontragen?
Der Passierschein, den sie Antoinette gestohlen hatte, fiel ihr ein und die damit verbundene Chance, sich in das Schloss einzuschleichen. Vielleicht
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