Die Leopardin
am Tag zuvor in Sainte-Cecile. Immer wieder aufs Neue spielte sie das Gefecht durch und traf imaginäre Alternativentscheidungen, die statt in die Niederlage zu einem Sieg geführt haben könnten. Sie fürchtete, ihren Mann ebenso zu verlieren wie das Gefecht, und sie fragte sich, ob es zwischen beidem eine Verbindung gab. Ich habe als Einsatzleiterin versagt, dachte sie, und offenbar auch als Ehefrau. Vielleicht habe ich irgendeinen tief sitzenden Charakterschaden.
Nachdem der neue Plan abgelehnt worden war, sah sie keine Chancen mehr für eine erfolgreiche Wiedergutmachung. Ihre tapferen Mitstreiter waren alle umsonst gestorben.
Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie erst erwachte, als jemand vehement an die Tür klopfte und rief: »Flick, Telefon!« Es war die Stimme eines der Mädchen, die in der Wohnung unter ihr lebten.
Der Wecker auf dem Bücherregal zeigte sechs Uhr. »Wer ist denn dran?«, rief Flick.
»Das Büro. Mehr hat er nicht gesagt.«
»Ich komme.« Sie zog sich einen Morgenrock über. Unsicher, ob es sechs Uhr morgens oder sechs Uhr abends war, spähte sie durch das kleine Fenster hinaus. Über den eleganten Terrassen von Ladbroke Grove sank die Sonne. Flick rannte die Treppe hinunter und ging ans Telefon, das im Flur stand.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, sagte Percy Thwaites Stimme.
»Macht nichts.« Sie freute sich immer, wenn sie Percys Stimme am anderen Ende der Leitung hörte. Sie hatte ihn im Laufe der Zeit schätzen gelernt – obwohl er sie ständig von neuem in Gefahr brachte. Agentenführer war kein Job für Zartbesaitete, und manche höheren Offiziere betäubten ihre Gefühle, indem sie den Tod oder die Gefangennahme ihrer Leute mit Eiseskälte hinnahmen. Bei Percy war das anders. Er empfand jeden einzelnen Fall als schmerzlichen Verlust, und daher wusste Flick, dass er sie nie einem unnötigen Risiko aussetzen würde. Sie vertraute ihm.
»Kannst du zum Orchard Court kommen?«
Ob die zuständigen Dienststellen es sich noch einmal überlegt haben?, dachte Flick, und Hoffnung keimte in ihr auf. Vielleicht ist mein neuer Plan zur Ausschaltung der Fernmeldezentrale doch noch nicht gestorben. »Hat Monty seine Meinung geändert?«
»Ich fürchte nein. Aber ich brauche dich für eine Instruktion.«
Flick biss sich auf die Lippen, um nicht zu verraten, wie enttäuscht sie war. »Ich bin in ein paar Minuten da.«
Sie zog sich rasch an und fuhr mit der U-Bahn zur Baker Street. Percy erwartete sie in der Wohnung am Portman Square. »Ich habe einen Funker gefunden. Ohne praktische Erfahrung, aber gut ausgebildet. Morgen schicke ich ihn nach Reims.«
Flick warf reflexartig einen Blick zum Fenster und prüfte die Wetterlage – eine typische Agentenreaktion, sobald ein bevorstehender Flug erwähnt wurde. Aus Sicherheitsgründen waren die Vorhänge vorgezogen, doch sie wusste ohnehin, dass das Wetter gut war. »Nach Reims? Warum?«
»Wir haben heute nichts von Michel gehört. Ich muss wissen, was von der Gruppe Bollinger noch übrig ist.«
Flick nickte. Der Funker der Gruppe, Pierre, hatte an dem Überfall teilgenommen und war entweder gefangen genommen worden oder tot. Es war nicht auszuschließen, dass Michel inzwischen Pierres Funkgerät in seinen Besitz gebracht hatte, aber er konnte damit nicht umgehen und kannte vor allem auch nicht die Codes. »Und warum ist das so wichtig?«, fragte sie Thwaite.
»Wir haben den Leuten in den vergangenen Monaten Tonnen von Sprengstoff und Munition zukommen lassen. Ich möchte, dass sie damit ein bisschen zündeln. Die Fernmeldezentrale ist zwar das wichtigste Ziel, aber nicht das einzige. Selbst wenn außer Michel und einer Hand voll anderer niemand mehr übrig ist, können sie noch was tun – Eisenbahntrassen sprengen zum Beispiel, Telefonleitungen kappen, Wachtposten erschießen – alles bringt uns weiter. Aber ich kann ihnen keine Weisungen erteilen, wenn ich nicht mit ihnen kommunizieren kann.«
Flick zuckte mit den Schultern. Das einzig lohnenswerte Ziel für sie war das Chateau, alles andere war nur Kleinkram. Und trotzdem. »Schon klar. Ich sag ihm, was ich weiß.«
Percy sah sie kritisch an, zögerte einen Moment lang und sagte dann: »Wie ging es Michel – abgesehen von der Schusswunde?«
»Gut.« Flick schwieg einen Augenblick. Percy starrte sie unverwandt an. Es hatte keinen Sinn, ihn hinters Licht führen zu wollen; er kannte sie zu gut. Sie seufzte und sagte: »Da ist so ein Mädchen.«
»Das
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