Die Lerche fliegt im Morgengrauen
Du blockierst die Straße am Übergang, nicht die Gleise, nur die Straße, steigst aus, schließt die Tür ab und läßt den Wagen stehen. Dann verschwindest du schnellstens.« Er wandte sich an Pierre. »Du folgst in einem Wagen, greifst ihn auf, und dann nichts wie zurück nach Paris.«
»Aber was geschieht mit Ihnen?« hakte der große Mann nach.
»Ich bin schon da und warte im Kombi. Ich komme allein zurecht. Aber jetzt zurück nach Paris. Ihr könnt mich am Le Chat Noir absetzen, und damit wäre die Sache erledigt. Ihr werdet mich nie wiedersehen.«
»Und das restliche Geld?« fragte Pierre, während er in den Renault stieg und Gaston und Dillon ihm folgten.
»Das bekommt ihr schon, keine Sorge«, sagte Dillon. »Ich habe immer mein Wort gehalten, so wie ich das auch von anderen erwarte. Das ist doch Ehrensache. Und jetzt los.«
Er schloß wieder die Augen und lehnte sich zurück. Pierre
warf seinem Bruder einen schnellen Seitenblick zu, ließ den Motor an und fuhr los.
Es war kurz nach halb eins, als sie das Le Chat Noir erreichten. Gegenüber dem Bistro befand sich eine abschließbare Garage. Gaston öffnete das Tor, und Pierre lenkte den Wagen hinein.
»Ich verschwinde dann«, meinte Dillon.
»Sie kommen nicht noch mal mit rein?« fragte der große Mann. »Gaston kann Sie doch nach Hause bringen.«
Dillon lächelte. »Niemand hat mich in meinem ganzen Leben jemals nach Hause gebracht.«
Er ging davon, bog in eine Nebenstraße ab, und Pierre sagte zu seinem Bruder: »Ihm nach, und laß ihn nicht aus den Au gen.«
»Warum?« wollte Gaston wissen.
»Weil ich wissen will, wo er wohnt, darum. Diese ganze Sache stinkt, Gaston, sie stinkt wie verdorbener Fisch, also geh schon.«
Dillon wanderte eilig durch die Straßen, folgte dabei seiner üblichen Technik, doch Gaston, seit seiner Kindheit ein Dieb und in solchen Dingen Experte, schaffte es, auf seiner Spur zu bleiben und ihm nicht zu nahe zu kommen. Dillon hatte eigent lich vorgehabt, zum Lagerhaus zurückzukehren, doch als er an der Ecke einer Gasse stehenblieb, um sich eine Zigarette anzuzünden, schaute er zurück und hätte schwören können, eine Bewegung wahrzunehmen. Er hatte recht, denn es war Gaston, der in einen Hauseingang eintauchte.
Für Dillon reichte allein schon dieser Verdacht aus. Er hatte bei Pierre ein ungutes Gefühl gehabt, und das schon den ganzen Abend. Er wandte sich nach links, ging in Richtung Fluß und schlenderte an einer Reihe Lastwagen entlang, deren Windschutzscheiben mit Schnee bedeckt waren. Er gelangte zu einem kleinen Hotel der billigsten Klasse, wie es gerne von Prostituierten oder von Lkw-Fahrern benutzt wird, die nur eine Nacht bleiben, und ging hinein.
Der Mann hinter dem Empfangspult war sehr alt, und er trug wegen der Kälte einen Mantel und hatte sich einen Schal um den Hals geschlungen. Seine Augen tränten. Er legte sein Buch beiseite und rieb sie. »Monsieur?«
»Ich bin vor zwei Stunden mit einer Ladung aus Dijon ge kommen. Wollte heute nacht noch zurückfahren, aber der verdammte Lastwagen streikt. Ich brauche ein Bett.«
»Dreißig Francs, Monsieur.«
»Das soll wohl ein Scherz sein«, sagte Dillon. »Ich bin im Morgengrauen schon wieder weg.«
Der alte Mann zuckte die Achseln. »Na schön, Sie können Nummer achtzehn im zweiten Stock für zwanzig haben, aber das Bett wurde noch nicht frisch bezogen.«
»Wie oft wird es denn? Einmal im Monat?« Dillon nahm den Schlüssel, legte seine zwanzig Francs auf das Pult und ging nach oben.
Das Zimmer war sogar im trüben Treppenlicht genauso ab stoßend wie er es erwartet hatte. Er schloß die Tür, tastete sich durch die Dunkelheit und sah vorsichtig hinaus auf die Straße. Unter einem Baum auf der Flußseite der Straße gewahrte er eine Bewegung. Gaston Jobert trat aus dem Schatten und eilte davon.
»Ach nein«, flüsterte Dillon, dann zündete er sich eine Ziga rette an und streckte sich auf dem Bett aus, dachte über seine Beobachtung nach und studierte die Decke über sich.
Pierre, der im Le Chat Noir an der Bar saß und auf die Rück kehr seines Bruders wartete, blätterte, weil er nichts Besseres zu tun hatte, im Paris Soir, als er eine Notiz über das Treffen zwischen Margaret Thatcher und Mitterrand entdeckte. Sein Magen krampfte sich zusammen, und er las die Notiz mit wachsendem Entsetzen. In diesem Moment ging die Tür auf, und Gaston kam eilig herein.
»Was für eine Nacht. Ich bin durchgefroren bis auf die Kno chen.
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