Die Lerche fliegt im Morgengrauen
in die Falls Road ein.
11
»Ich erinnere mich noch, wie dieses Haus einundsiebzig eröffnet wurde«, sagte Brosnan zu Mary. Er stand am Fenster des Zimmers im sechsten Stock des Europa-Hotels in der Great Victoria Street neben dem Bahnhof. »Eine Zeit lang war es das beliebteste Ziel für Bombenleger der IRA, nämlich die Typen, die lieber irgend etwas in die Luft sprengen als gar nichts.«
»Sie waren natürlich keiner von denen.«
In ihrer Stimme lag ein leicht sarkastischer Unterton, den er ignorierte. »Gewiß nicht. Devlin und ich haben die Bar viel zu sehr geschätzt. Wir kamen ständig hierher.«
Sie lachte. »Meinen Sie wirklich, ich glaube Ihnen, daß Sie mit Devlin in der Bar des Europa saßen, während die britische Armee Sie überall in Belfast suchte?«
»Manchmal auch im Restaurant. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen. Wir sollten lieber unsere Mäntel mitnehmen, für den Fall, daß wir irgendeine Nachricht erhalten, während wir unten sind.«
Während sie mit dem Lift ins Erdgeschoß fuhren, sagte sie: »Sie sind doch nicht bewaffnet, oder?«
»Nein.«
»Gut, es ist mir auch lieber so.«
»Und wie steht es mit Ihnen?«
»Ja«, sagte sie ruhig. »Aber das ist etwas anderes. Ich bin Offizier der Streitkräfte der Krone und befinde mich im Ein satz.«
»Was haben Sie denn bei sich?«
Sie öffnete ihre Handtasche und ließ ihn einen kurzen Blick auf ihre Waffe werfen. Sie war nicht größer als ihre Handflä che, eine kleine Automatik.
»Was ist das?« wollte er wissen.
»Etwas ziemlich Seltenes. Ein alter .25er-Colt. Ich hab’ das Ding in Afrika gefunden.«
»Wohl kaum eine Elefantenbüchse.«
»Nein, aber sie verrichtet ihre Arbeit zufriedenstellend.« Sie lächelte freudlos. »Solange man zum Schuß kommt, heißt das.«
Die Lifttüren glitten auf, und sie gingen durch die Halle.
Dillon schritt eilig durch die Falls Road. Nichts hatte sich verändert, überhaupt nichts. Es war genauso wie in den alten Zeiten. Zweimal sah er RUC-Patrouillen, die durch Soldaten verstärkt wurden, und einmal fuhren zwei gepanzerte Truppen transporter an ihm vorbei, aber niemand beachtete ihn. Er fand schließlich, was er suchte, in der Craig Street, etwa anderthalb Kilometer vom Hotel entfernt. Es war ein kleiner Laden mit zwei Schaufenstern. Die Fenster waren durch Stahlgitter gesichert. Drei Messingkugeln, das Symbol der Pfandleiher, hingen über dem Eingang. Desgleichen das Schild mit dem Namen Patrick Maceys.
Dillon öffnete die Tür und trat in die muffige Stille. Der un zureichend beleuchtete Laden war vollgestopft mit einer Vielzahl von Dingen. Fernsehapparate, Videorecorder, Uhren. Es gab sogar einen Gasherd und in einer Ecke einen ausge stopften Bären.
Ein Schutzgitter aus Maschendraht verlief über der Theke, und der Mann, der auf einem Hocker dahinter saß, reparierte gerade eine Uhr. In einem Auge klemmte eine Juwelierlupe. Er blickte hoch, ein ziemlich heruntergekommenes Individuum in den Sechzigern. Das Gesicht war grau und bleich.
»Was kann ich für Sie tun?«
Dillon schüttelte den Kopf. »Es ändert sich nichts, Patrick. Dieser Laden riecht genauso wie früher.«
Macey nahm die Lupe aus dem Auge und runzelte die Stirn. »Kenne ich Sie?«
»Wie solltest du nicht, Patrick? Denk doch mal an jene heiße Juninacht zweiundsiebzig, als wir das Lagerhaus dieses Oran gisten Stewart in Brand setzten und ihn und seine beiden Neffen abschossen, als sie rausrannten. Mal sehen, ich glaube, wir waren damals zu dritt.« Dillon schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie betont sorgfältig an. »Du warst dabei und dein Halbbruder Tommy McGuire und ich.«
»Heilige Muttergottes, Sean Dillon, bist du’s wirklich?« rief Macey.
»Aber immer doch, Patrick.«
»Mein Gott, Sean, ich hätte niemals erwartet, dich noch ein
mal in Belfast zu sehen. Ich dachte, du wärst …«
Er hielt inne, und Dillon meinte: »Was dachtest du denn, wo ich bin, Patrick?«
»In London«, sagte Patrick Macey. »Vielleicht auch woan ders«, fügte er lahm hinzu.
»Und wie kommst du auf diese Idee?« Dillon ging zur Tür, schloß sie ab und zog das Springrollo herunter.
»Was tust du da?« fragte Macey nervös.
»Ich wollte mich nur mal mit dir ungestört und m aller Ruhe unterhalten, Patrick, mein alter Freund.«
»Nein, Sean, das ist vorbei. Ich habe mit der IRA nichts zu tun, schon lange nicht mehr.«
»Du weißt doch, wie es so schön heißt, Patrick, einmal drin, immer drin.
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