Die Letzte Arche
als Modell dienen.« Sie sagte das mit einem Lächeln und mit ausgebreiteten Armen, aber niemand reagierte so recht darauf.
So war das mit Kelly. Sie war enorm tüchtig, intelligent, beredt, überzeugend, und insoweit eine natürliche Anführerin. Aber in all den Jahren, die sie zusammen aufgewachsen waren, hatte Holle immer und in erster Linie Kellys starken, alles überlagernden Ehrgeiz wahrgenommen – einen Ehrgeiz, der sie dazu gebracht hatte, ein Kind auf der Erde zurückzulassen, wie viele wussten. Die Menschen verstanden Kelly Kenzie einfach nicht so recht. Statt von ihrer visionären Rede inspiriert zu sein, wandten jetzt viele den Blick ab.
Nun begannen die Diskussionen. Es ging um gemeinsamen Besitz und kollektive Kindererziehung. Jemand schlug vor, sich für ihre neue Gesellschaft die alten Kibbuzim in Israel zum Vorbild zu nehmen. Kelly reagierte heftig. Bald ähnelte die Atmosphäre jener auf der Akademie in den alten Zeiten, wenn ein Tutor ihnen irgendein heißes Thema hinwarf, an dem sie herumnagen konnten.
Kellys hochrangige Kolleginnen und Kollegen saßen geduldig am Tisch. Venus schaute diskret auf ihre Armbanduhr. Doch am Rand der Menge schlüpften bereits die Ersten davon.
Als Zane auf dem Absatz kehrtmachte und ging, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben, entschuldigte sich Holle mit einer Handbewegung bei Kelly und verließ die Versammlung, um ihm zu folgen. Für sie kam nun erst der wirklich wichtige Programmpunkt dieses Tages. Ihr Herz schlug schneller.
59
Sie folgte Zane zu seiner kleinen, einsamen Kabine. Es war nicht sonderlich weit.
Er wirkte überrascht, sie zu sehen, und wollte ihr nicht in die Augen schauen. Aber er sagte nicht Nein, als sie fragte, ob sie hereinkommen und mit ihm reden könne. Ihre Nervosität wuchs, als sie ihm in die Kabine folgte, und sie fragte sich, wie sie das Thema anschneiden sollte, das ihr auf dem Herzen lag.
Seine Kabine lenkte sie allerdings ab. Sie war lediglich eine Schachtel aus Trennwänden. Alle anderen hatten ihren Kabinen auf die eine oder andere Art eine persönliche Note verliehen. In Holles kleinem Raum befanden sich ihre privaten Sachen, ihre Kleidung, ihre Fotos von ihrem Vater und ihrer Mutter, ihr Angel. Und wenn man ein Kind hatte, wie Grace Gray, verfügte man ohnehin über jemanden, der spontan ein Zuhause schuf. In Zanes Raum gab es jedoch nichts dergleichen. Die Möbel waren funktionell: ein Bett, zwei Stühle, ein Schrank. Holle sah Arbeitsmaterialien, eine komplizierte Workstation und ein paar kostbare Papierhandbücher über Relativität, den Warp-Antrieb und Raumfahrttechnik. Aber das war es auch schon, abgesehen von Kleiderhaufen auf dem Boden. Zane hielt sich an diesem Ort nur auf, aber er lebte nicht hier.
Sie setzte sich auf einen Stuhl; zuerst musste sie einen Haufen Strümpfe wegräumen. Zane nahm auf der Bettkante Platz, die Hände auf den Knien gefaltet. Sie konnte nicht recht erkennen,
in welcher Stimmung er war, und der Raum, in dem er wohnte, machte sie nervös; ihre Unsicherheit wuchs, ob ihr Vorhaben klug war. Überwältigt von ihrer eigenen Nervosität und Befangenheit, machte sie jedoch trotzdem weiter.
»Es ist so, Zane«, sagte sie.
Sein Kopf drehte sich ihr zu.
»Ich habe nachgedacht. Du weißt ja, worum es bei dieser Mission geht – du kennst das soziale Konzept. Bei der Auswahl der Crew ist auf möglichst große genetische Diversität geachtet worden, damit unsere Kinder die besten Chancen haben, Inzucht zu vermeiden. So hat man es uns auf der Akademie eingetrichtert. Aber das heißt zunächst einmal, dass wir alle eine Pflicht haben. Wir müssen Eltern werden. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass all unsere Gene in den Pool der Kolonisten auf der Erde II eingehen.«
»Und warum erzählst du mir das?«
Sie biss sich auf die Lippe. Musste sie es wirklich aussprechen? Sie begann zu argwöhnen, dass hier etwas nicht stimmte, dass es nicht nur an ihrer eigenen Nervosität lag. Aber sie sprach weiter. »Du hast gesehen, dass sich Leute Partner gesucht haben, Zane, besonders seit dem Jupiter. Angeblich sind Kelly und Wilson jetzt ein Paar.«
Er runzelte erneut die Stirn. »Wilson. Der Ingenieur für Außensysteme. «
»Ja«, sagte sie, verwirrt von seiner Reaktion. »Dieser Wilson, Wilson Argent, mit dem du aufgewachsen bist … Die Wahrheit ist, Zane, ich habe Mel auf der Erde zurückgelassen. Das weißt du ja. Ich kann mir nicht vorstellen, mich auf diesem Rosteimer in jemand anderen zu
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