Die Letzte Arche
zusammensaß und sich wieder und wieder den Spielzeugschraubenzieher in den Arm stieß. Dies waren die Menschen, die mit den dramatischen, unerwarteten Herausforderungen der Erde II konfrontiert sein würden, dachte Holle. Wie sollten sie die jemals meistern?
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DEZEMBER 2051
Sämtliche Mitglieder der Crew versammelten sich in Hawila, um sich Venus’ Bericht über die Erde II anzusehen und anzuhören. Nur eine Wach-Crew blieb in Seba zurück, aber Holle wusste, dass auch sie am Kommunikationssystem kleben würde. Für ihre Präsentation baute Venus eine Kristallkugel auf, ein dreidimensionales Display, das noch nie ausgepackt worden war, seit sie die Erde verlassen hatten. Es summte und glänzte, während seine Flächen so schnell rotierten, dass das Auge ihnen nicht folgen konnte. Holle wusste, dies war ein Geschenk von Thandie Jones an die Arche; mit ebendiesem Gerät hatte Thandie einst die LaRei-Leute in Denver informiert, während Holle und Kelly auf dem Boden herumgerannt waren, und sie hatte es auch davor schon einmal benutzt, beim Weltklimarat in New York.
Holle selbst fand einen Platz auf einem Steg neben Kelly Kenzie. Venus hatte die Gitterelemente über drei Decks hinweg herausgenommen, um im Herzen des Moduls eine Art Auditorium zu schaffen, so dass jeder gut sehen und hören konnte, und nun drängten sich einschließlich der Kinder und Babys mehr als achtzig Personen darin, hielten sich an Stegen und Leitern fest und warteten auf die Show. Das Stimmengewirr aufgeregter Gespräche erfüllte den Raum, und man hatte das seltene Gefühl, einer großen Menschenmenge anzugehören. Holle sah überall bekannte Gesichter, die Gesichter der Leute, mit denen sie so viel geteilt hatte, in manchen Fällen schon seit ihrer gemeinsamen
Kindheit in Denver: Mike Wetherbee, der neben Zane Glemp stand, seinem widerspenstigsten, aber auch wertvollsten Patienten; Theo Morrell, der korrupte König der HeadSpace-Zellen; die Shaughnessy-Brüder, beide solide, harte Arbeiter, Jack mit einer Mütze, die er in sein von Brandnarben gezeichnetes Gesicht gezogen hatte; Thomas Windrup und Elle Strekalow, trotz aller Widrigkeiten noch immer ein Paar; Masayo Saito, Lieutenant der Army, der sich unversehens in einer unerträglichen und unerwarteten Lage wiedergefunden und als kluger, couragierter Brückenbauer erwiesen hatte; und die arme Cora Robles, die nie über den Verlust ihrer kleinen Tochter hinweggekommen war, nurmehr ein Schatten ihres früheren, strahlenden Ichs – aber nun erneut schwanger. Helen Gray, inzwischen neun Jahre alt, stand neben ihrer Mutter auf einem Steg auf der anderen Seite des Moduls. Sie spielte mit der sechsjährigen Steel Antoniadi backe backe Kuchen. Als sie Holle erblickte, winkte sie ihr zu. Sie wuchs zu einem hübschen Mädchen mit dem sehr englischen Teint ihrer Mutter heran. Holle kam der Gedanke, dass Helen noch nie in ihrem Leben so viele Menschen in einem Raum gesehen hatte. Aber Helens Blick wurde nun wie der der anderen Kinder von Venus’ glitzerndem Spielzeug angezogen.
Holle verspürte eine Hochstimmung, ein Gefühl der Zugehörigkeit. Trotz all ihrer Triumphe und Tragödien, ihrer Schwächen und Stärken waren sie hierhergekommen, über zehn Jahre seit Gunnison und mehr als zwanzig Lichtjahre hinweg. Sie hatten 82 Eridani erreicht. Und sie hatten den Lohn ihrer Mühen, die Erde II, mit bloßem Auge gesehen. Venus hatte die anderen Mitglieder der Crew in ihre kostbare Kuppel eingelassen, immer ein paar auf einmal, damit sie auf die riesige Welt hinunterschauen konnten, die sich ein paar Hundert Kilometer unter der Arche in ihrer Umlaufbahn drehte, mit ihren gekräuselten Meeren,
verstreuten Wolken und rostfarbenen Landmassen. Endlich gab es ein Gefühl der Einheit; gemeinsam hatten sie einen gewaltigen Triumph errungen.
Aber die Erde II war nicht, was sie sich erhofft hatten. Und jetzt, heute, sechs Monate nach dem Eintreffen der Arche bei 82 Eridani, mussten sie schwerwiegende Entscheidungen treffen. Holle fragte sich, wie viel von dieser wunderbaren Einheit den Tag überdauern würde.
Wilson Argent kam übers Deck stolziert, und die Gespräche verstummten. Wilson ließ den Blick über die Mitglieder der Crew auf den Decks und Stegen und Leitern schweifen. Er war ein großer, schwerer Mann, imposant und eindrucksvoll. Drei Jahre, nachdem er das Ruder von Kelly übernommen hatte, herrschte er mit absoluter Macht über die Crew, und man betrachtete ihn mit einer Mischung aus
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