Die Letzte Arche
Angehörigen Stück für Stück in die Öfen schicken.«
»Weißt du, wie viele das bisher getan haben? Nicht mal zwanzig Prozent.«
Wilson zuckte die Achseln. »Bei dem Thema wollte ich mich nicht auf die Hinterbeine stellen.«
»Nun, jetzt müssen wir jeden Tropfen Wasser, jeden Fetzen organisches Material der Wiederverwertung zuführen, und dazu gehören auch Leichen. Wir müssen eine Variante von Wilsons Bestattungsprozedur entwickeln, um diejenigen zu ehren, die ihre Körper den Öfen übergeben. Macht allen klar, dass der größte Beitrag für die Arche darin besteht, sie für die Weiterlebenden funktionsfähig zu erhalten.«
»Wir sollten die Leute dazu bewegen, es testamentarisch zu verfügen«, schlug Venus vor. »Bevor sie sterben. Und ihren Letzten Willen im Archiv aufbewahren. Das könnte die Konflikte nach dem Tod verringern.«
»Gute Idee. Und Grace, du solltest vielleicht an einem Ausbildungsprogramm arbeiten, das dem Tabu des Konsums sterblicher Überreste entgegenwirkt.«
»Für die Schiffsgeborenen wird das nicht gar so schwierig sein«, meinte Grace. »Die sind in dem Wissen aufgewachsen, dass jeder Schluck Wasser, den sie trinken, schon x-mal durch die Blasen anderer Leute gewandert ist. Sie stellen sich da nicht so an wie die älteren Mitglieder der Crew. Wir werden das Problem sein. Ich kümmere mich drum.«
»Ihr müsst an die Verweigerer denken«, sagte Wilson. »Es gibt immer welche.«
»Sie werden keine Wahl haben«, erklärte Holle rundheraus. »Okay. Dann stellt sich die Frage, welche Strafen wir für die Aktionen verhängen wollen, die zum Blow-out geführt haben.«
»Ah.« Wilson lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Das hier ist also doch so eine Art Gerichtsverfahren.«
Holle schüttelte den Kopf. »Nein. Hör zu, Wilson, du bist unverzichtbar. Aber du wirst in diesem Schiff weiterleben müssen, und es ist nun mal verdammt klein. Ich stelle dich nicht vor Gericht, offiziell wirst du nicht bestraft. Ich werde dich nicht mal öffentlich kritisieren. Du musst selbst irgendeine Wiedergutmachung anbieten. Überleg dir, wie du dich bei den Kindern, die du verletzt hast, und ihren Angehörigen entschuldigen kannst. Das liegt allein bei dir.«
Wilson nickte. »Das ist pragmatisch.«
»Wenn wir Wilson nicht bestrafen«, sagte Grace, »wen dann?«
»Steel Antoniadi, nehme ich an«, meinte Venus.
Holle nickte. »Richtig. Für das Verbrechen einer Rebellion, die uns beinahe alle umgebracht hätte. Wir müssen an ihr ein Exempel statuieren.«
Wilson grinste erneut. »Warum sagst du’s nicht offen heraus? Du willst sie hinrichten.«
Grace lachte nervös. Aber Holle verzog keine Miene.
Venus schnappte nach Luft. »Ist das dein Ernst, Holle? Die Kleine ist von diesem Gorilla hier missbraucht worden, Zane hat ihr den Kopf mit lauter Müll angefüllt – welche Chance hatte sie denn? Die Schuld an ihrem Verbrechen liegt bei uns, bei unserer Generation.«
»Und sie hinrichten …«, sagte Grace. »In Walker City gab es Verbrechen, es gab Vergewaltigungen und Morde. Aber wir – die Bürgermeister jedenfalls – haben die Todesstrafe abgelehnt. Dazu waren wir eine zu kleine Gemeinschaft. Jeder von uns hätte dem Henker zu nahegestanden, jeder von uns wäre zum Mörder geworden. Und verglichen mit dieser Crew waren wir
eine wahre Menschenmasse. Jeder von uns wird dadurch befleckt werden.«
»Gut«, meinte Holle.
»Außerdem hast du gesagt, Holle, wir könnten uns keine weiteren Verluste leisten«, setzte Venus nach. »Steel gehört zu den Intelligentesten ihres Kaders. Selbst wenn man sich die Rebellion ansieht, hat sie Weitsicht, Führungskraft, strategisches Talent und sogar eine Art militärischer Begabung an den Tag gelegt. Sie hat es fertiggebracht, all diese Teenager-Gangs zu vereinigen. Und sie war gründlich. Sie hat die Funkverbindungen unterbrochen, einschließlich des Reservesystems. Sie hat das Shuttle sabotiert. Alles unter vollständiger Geheimhaltung …«
»Ich will keine Führungskraft«, erwiderte Holle. »Nicht unter den Schiffsgeborenen. Ich will keine Weitsicht, keinen Idealismus, keine Neugier oder Initiative. Ich will keine Courage. Ich will nur Gehorsam. Mehr kann ich mir nicht leisten, bis wir unten auf der Erde III sind und der Tag kommt, an dem wir die Kuppeln öffnen und die Kinder einfach fortgehen lassen können. Ja, sie ist die Beste ihrer Generation, und deshalb ist sie eine solche Gefahr. Wir müssen den Prozess so öffentlich wie möglich
Weitere Kostenlose Bücher