Die Letzte Arche
wir stecken sie in das Shuttle, abseits der anderen.«
»Was erzählen wir ihnen?«
»Lügen. Helen oder einer ihrer Freiwilligen kann Lebensgefährten, Eltern oder was auch immer auftreiben.«
»Ich kann das nicht.«
»Das ist okay. Musst du auch nicht. Ich bleibe bei dir. Du gibst mir nur zu verstehen, in welche Kategorie jeder Patient gehört. Den Rest erledige ich.« Sie lauschte den Worten nach, die da aus ihrem Mund kamen. Würde sie so etwas wirklich fertigbringen? Nun, sie musste, also konnte sie es auch.
»Noch eins, Holle. Steel Antoniadi. Sie hat überlebt. Sie ist noch in der Kuppel. Jeder weiß, dass sie den Angriff der Rebellen angeführt hat. Ich hielt es für das Beste für sie, nicht auf der Bildfläche zu erscheinen.«
»Gute Idee. Ich werde mit Venus darüber reden. Mal sehen, ob wir sie irgendwo unterbringen können, wo sie in Sicherheit ist …«
Jemand tippte ihr auf die Schulter. »Holle.«
Sie drehte sich um.
Der Schlag auf den Mund war so hart, dass sie durch die Luft segelte. Jemand fing sie ab, und sie packte einen Haltegriff und schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.
Es war Magda Murphy. Ihre Arme und Hände waren geschwollen ; bei diesem Schlag musste ihr die Faust höllisch wehgetan haben. Magda prallte gegen ein Ausrüstungs-Rack an der Wand, drehte sich in der Luft, stieß sich mit den gestiefelten Füßen ab und stürzte sich erneut auf Holle. Irgendwie gelang es Grace Gray, sich dazwischenzuwerfen. Sie packte Magda um die Taille, und die beiden trieben davon, abgelenkt durch Graces Schwung.
Magda zeigte auf Holle und schrie: »Du hast meine Kleine sterben lassen! Du hast sie sterben lassen! Du hättest bloß die Hand auszustrecken brauchen …« Sie wehrte sich, aber Grace hielt sie fest. Dann verließen Magda die Kräfte. Sie sackte zusammen und begann jämmerlich zu schluchzen. »Ich werde dir nie verzeihen, dass du mich gerettet hast und nicht sie, Groundwater. Niemals.«
89
Drei Tage nach dem Blow-out hatte sich die Lage im Modul wieder einigermaßen stabilisiert. Holle führte Grace und Venus zu der Kabine, die Wilson zugeteilt worden war, an der Rutschstange ungefähr in Höhe von Deck acht. Dort war er die ganze Zeit festgehalten worden, seit er in seinem Druckanzug aus der Luftschleuse gekommen war; zuvor hatte er Shuttle A und Terese Baker ihrer Begegnung mit der Wand der Warp-Blase überlassen.
Holle schob sich ohne Umstände hinein. Die anderen folgten ihr. Sie ließ sich in einer Ecke der Kabine nieder und wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit angepasst hatten.
Wilson starrte die Frauen nur an, als sie hereinkamen. Er trug ein schmutziges, häufig benutztes T-Shirt und Shorts. Er schwebte in der unordentlichen Kabine, umgeben von einem ausgerollten Schlafsack, einem Rückenschwamm und einem Verpflegungspaket. Die muskulösen Beine an die Brust gezogen, hielt er mit den großen Händen die nackten Füße umklammert. Das T-Shirt war mit einem fast völlig ausgeblichenen Slogan bedruckt, ein Relikt von der Erde, sogar noch aus der Zeit vor der Flut. Seltsamerweise wünschte sich Holle, sie könnte ihn lesen, könnte etwas über eine lange zurückliegende Sportveranstaltung oder Tour einer Rockband erfahren.
Nichts deutete daraufhin, dass Wilson hier drin irgendetwas getan hatte. Es gab weder einen Handheld noch Bücher. Nicht
einmal eine Lampe brannte. Das einzige Licht stammte von den großen Bogenlampen des Moduls; es sickerte durch Ritzen in den Wänden ein. Seine Haut sah ölig aus, und er roch nach abgestandenem Schweiß. Sie fragte sich, wann er sich zum letzten Mal in einer der wieder funktionsfähig gemachten Mikrogravitations-Duschen gewaschen hatte. Aber er sah gesund aus. Er war der einzige Überlebende außer Venus, dem die Dekompression erspart geblieben war.
Wilson und Venus waren Holles Kollegen aus ihrer längst vergangenen Kandidatenzeit. Jetzt waren sie alle fast fünfzig, mit schweren Körpern, harten Gesichtern und ergrauendem Haar, die Haut voller Falten, seelisch abgestumpft vom ermüdenden Horror eines zur Hälfte an Bord dieser Arche verbrachten Lebens. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass sie einmal so enden würden. Aber Wilson wirkte am gefasstesten und selbstbewusstesten. Er grinste Holle sogar an.
Grace Gray sah aus, als wäre es ihr ausgesprochen unangenehm, hier zu sein.
»Fangen wir einfach an«, sagte Holle. »Niemand kann uns belauschen, dieses Gespräch wird nicht
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