Die Letzte Arche
Menschen, sie standen in Hauseingängen, streckten den Kopf aus Zelten oder gingen, teils mit uralten Einkaufswagen im Schlepptau, auf den Bürgersteigen oder den verkehrsfreien Straßen dahin, und sie alle starrten die Kandidaten an. Aber die Kandidaten, konzentriert auf ihre Handys und Handhelds, nahmen kaum Notiz von den Einheimischen.
Ein kleines Mädchen kam auf die Kandidaten zu. Sie war vielleicht neun Jahre alt und trug ein verschossenes Erwachsenen-T-Shirt, das mit einem alten Elektrokabel um die Taille zusammengebunden war. Don beobachtete sie wachsam, die Hand am Griff des Schlagstocks in seinem Gürtel. Sie zeigte auf Kelly. »Ich kenne dich. Du bist Kelly Kenzie.«
Kelly warf Cora einen selbstzufriedenen Blick zu und lächelte. »Woher weißt du das?«
»Mein Dad arbeitet in Gunnison. Er hat einen Computer, auf dem kann man sich ansehen, was ihr alle macht, und eure Blogs lesen und so.« Sie lächelte. »Ich schaue euch gern zu. Mir gefallen die hübschen Farben, die ihr tragt. Ich wohne nicht hier.«
»In Cortez, meinst du? Wo dann?«
»Mesa Verde. Im Cliff Palace.«
Zane war erstaunt. Er hatte Cliff Palace gesehen – sein Vater hatte ihn einmal dorthin mitgenommen –, von Vorfahren der Pueblo-Leute erbaute und in den Fels gehauene Behausungen. Jetzt war die kostbare, uralte Stätte zum Heim dieses zerlumpten kleinen Mädchens geworden.
»Da wohnen viele von uns«, sagte sie nüchtern. »Wir haben Fernsehen und so.« Sie trat auf Kelly zu, hielt ihr ein kostbares Blatt Papier und ein Stück Kohle zum Schreiben hin. »Gibst du mir ein Autogramm?«
19
Die Frage war, was sie mit ihrer Freiheit anfangen sollten. Sie verbrachten ein paar Minuten damit, Suchmaschinen zurate zu ziehen. Dann einigten sie sich darauf, zu der ein paar Kilometer entfernten Hawkins Preserve zu gehen. Dieser einen halben Quadratkilometer große Kulturpark war von den Stadtvätern bewahrt worden, weil sie schon früh zu dem Schluss gelangt waren, dass selbst die Kinder von Flüchtlingen einen Ort brauchen, wo sie herumlaufen und Ball spielen konnten.
Also brachen sie auf, angeführt von Kelly und Wilson. Sie folgten interaktiven Karten, die sie auf der North Market Street nach Süden, dann nach rechts in die West Main und wieder nach links in die South Chestnut leiteten. Die meisten Kandidaten schauten auf ihre Displays statt auf die Stadt um sie herum; sie verschlangen Nachrichtenmeldungen und Mails, Klatsch und Spekulationen.
Venus Jenning sagte: »Sie erforschen immer noch diese Explosion da draußen in der Oortschen Wolke …« Bei dem Versuch, Exoplaneten aufzuspüren, hatte ein Weltraumteleskop zufällig einen Blitz draußen in jenem Halo von Kometenkernen aufgefangen, der weit außerhalb der Planetenbahnen kalt und lichtlos dahintrieb. Später hatte eine Handvoll Sonden anomale Spuren hochenergetischer Strahlung und Partikel gemeldet.
»Sind sie denn schon sicher, dass es eine Atomexplosion war?«, fragte Zane.
Venus zuckte die Achseln. »Das ist nach wie vor die Theorie, die am besten zu den Daten passt. Irgendjemand hat da eine Atombombe hingeschickt und gezündet, vielleicht auch viele Atombomben. Aber wer? Die Chinesen, die Russen …«
»Könnten die Amerikaner gewesen sein«, warf Wilson trocken ein. »Unser ganzes Projekt ist ein Geheimnis.«
»Okay«, sagte Venus. »Aber warum? Die Welt ertrinkt. Wozu einen langperiodischen Kometen sprengen? Was soll das bringen? «
Keiner von ihnen hatte eine Antwort darauf.
»Scheiße«, sagte Mike Wetherbee. »Das Altersprofil-Auswahlkomitee hat seine Empfehlungen ausgesprochen.« Das war weitaus interessanter; es würde sie alle betreffen. Sie scharten sich um ihn, um es zu sehen, und fingen an, Daten auf ihre eigenen Displays und Bildschirme herunterzuladen.
Die Sozialingenieure hatten Methoden entwickelt, um der nominellen Crew – deren Stärke inzwischen auf achtzig Personen festgelegt worden war – die beste Chance auf soziale Stabilität bei maximaler genetischer Diversität zu geben. So war zum Beispiel längst entschieden worden, dass keine Familien mitgenommen werden würden, weil sie zu viele Kopien derselben Gene darstellten. Es würde keine Eltern auf der Arche geben, keine Geschwister; jedes Besatzungsmitglied mit seinem möglichst eigenständigen Genprofil würde praktisch allein auf die Arche gehen.
Aber wie alt sollte die Crew sein? Eine gleichförmige Verteilung von Altersgruppen wie in der Menschenwelt, die sie hinter sich ließen, erschien
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