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Die letzte Aussage

Die letzte Aussage

Titel: Die letzte Aussage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keren David
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aus dem Wohnzimmer. Helen kommt heraus und lacht uns fröhlich an, dann höre ich, wie das Geplauder drinnen verstummt. Dort sind ziemlich viele Leute versammelt, die auf mich warten. Ich weiß es. Helen sieht mich kurz an, dann sagt sie mit fester Stimme: »Komm, Tyler, bring deine Sachen gleich nach oben. Die anderen kannst du nachher immer noch begrüßen.«
    Auch im Dachzimmer gibt es weder Ruhe noch Frieden. Dort sieht es aus wie auf einem Campingplatz, alles voller Luftmatratzen und bunten Schlafsäcken. Archie liegt auf meinem Metallbett und schaut sich den ersten Teil von Herr der Ringe an, bei voller Lautstärke, und gleich neben ihm hüpfen zwei kleine Jungs auf und ab. Ich bin verwirrt.
    »Ich war so begeistert, als Nicki angerufen hat«, sagt Helen, »dass ich allen gesagt habe, sie sollen hierbleiben, damit sie dich kennenlernen. Sie waren wegen Weihnachten sowieso alle hier, deshalb habe ich jetzt die Gelegenheit, dir die ganze Familie vorzustellen, mein Liebling. Ich hoffe, dass Danny auch noch kommt, dann haben wir ein richtiges Familientreffen.«
    Sie springt vor Freude fast in die Luft, so glücklich ist sie. Niemand käme auf den Gedanken, dass sie einen Enkel vorführen will, der schon bald ins Gefängnis muss, oder einen Sohn, der mal Drogen genommen hat. Eigentlich käme niemand im Entferntesten auf den Gedanken, dass sie schon jemals etwas von Messern oder Drogen gehört hat. Ich mag Helen sehr. Aber sie hat etwas an sich, das mich nervös macht.
    »Oh. Ähm. Cool«, sage ich. »He, Archie.«
    »He«, ruft er zurück und stellt die DVD auf Pause.
    »Das ist Ludo und der hier ist Atticus«, klärt mich Helen auf und zeigt auf die kleinen Jungen. Wie kann sie die beiden bloß auseinanderhalten? Beide haben schwarze Haare, blaue Augen und genau die gleiche kleine Nase mit Sommersprossen drauf. Sie sind ungefähr sechs Jahre alt und einer so überdreht und laut wie der andere. Irgendein Schwachkopf hat sie beide in Jeans und blaue Pullover gesteckt.
    »Archie hat das große Bett«, sagt Helen, »aber du kannst das obere Stockbett haben, Ty, ist das in Ordnung so?«
    »Jepp.«
    »Du kannst ja zuerst deine Sachen auspacken und dann runterkommen, damit du die anderen endlich kennenlernst.«
    »Ähm … ja … mach ich.«
    Sie umarmt mich rasch – sie riecht nach Weihnachtsplätzchen und Rosen – und gibt mir einen Kuss. Total komisch, einen Kuss von einer Lehrerin zu kriegen.
    Ich setze mich auf das untere Stockbett und schon fallen Ludo und Atticus über mich her. »Hallo«, sage ich und habe schon wieder vergessen, wer jetzt wer ist.
    »Bist du Tyler?«, fragt einer der beiden.
    »Genau der bin ich.«
    »Wow! Du bist der, der sich mit anderen prügelt!«, sagt der Knirps. Der andere sieht mich ernst an und sagt: »Mummy hat gesagt, dass ein Messer in dir dringesteckt hat.«
    »Stimmt«, erwidere ich. Ich bin unglaublich nervös, weil ich gleich der ganzen Familie gegenübertreten muss. Wie viele Leute passen eigentlich in dieses Wohnzimmer?
    »Toll! Zeigst du uns mal, wo es reingegangen ist?«, fragt einer der Jungen.
    »Hmm. Tja. Weiß nicht.«
    »Bitte … da wo das Messer rein ist.«
    Ich weiß nicht, was ich machen soll. Archie kichert und ruft: »Mach schon, zeig’s ihnen.«
    »Na gut. Einverstanden.«
    Ich ziehe meine Kapuzenjacke und mein T-Shirt hoch und zeige ihnen die Narbe. Angeblich verblasst sie mitder Zeit, aber momentan sieht sie noch ziemlich wüst aus. Die Jungs sind total eingeschüchtert, und einer von ihnen sieht so aus, als wäre ihm ein bisschen schlecht.
    »Tut mir leid«, sage ich zu ihm.
    »Alles klar«, kommt es zurück, aber seine Sommersprossen sind ganz deutlich auf der blassen Haut zu sehen. Vielleicht hätte ich sie ihnen doch nicht zeigen sollen.
    Sein Bruder hüpft schon wieder auf dem Metallbett auf und ab wie auf einem Trampolin. »Hör auf mit dem Scheiß«, blafft ihn Archie an, und der Junge hält kurz inne und kreischt: »Hast du gekämpft? Hast du ein Messer gehabt? Hast du eine Pistole? Bist du ein Verbrecher?«
    »Nein«, antworte ich. »Hör mal, ähm, Atticus. Und Ludo. Wenn man so ein Messer in den Bauch kriegt, das ist nicht lustig. Am besten hat man mit so was überhaupt nichts zu tun.«
    Ich bin ziemlich stolz auf meinen sehr erwachsen klingenden Ratschlag, aber der Hüpfjunge lacht nur und sagt: »Ich hätte die Kerle zurückgestochen, ins Auge und in den Bauch und in den Hintern.« Archie schnaubt verächtlich und sagt: »Also ehrlich, Ty, du bist

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