Die letzte Aussage
»die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit« sage, quiekt meine Stimme auf einmal und hört sich total jung an. Meine Hand auf der Bibel zittert. Na super. Ich habe mich gerade vor einem ganzen Gerichtssaal voller Leute, die ich nicht mal sehen kann, zum Vollidioten gemacht.
»Guten Morgen, Tom«, sagt der erste Anwalt und dann geht’s los. Wir sind mittendrin. Es gibt kein Zurück mehr. Jedenfalls kommt es mir so vor.
DI Morris hat mir gesagt, dass der erste Anwalt der nette ist. Der freundliche. Der Staatsanwalt, derjenige, der dem Gericht zeigen will, wie glaubwürdig und ehrlich ich bin. Er ist in Ordnung, nehme ich an. Aber seiner Meinung nach scheint Arron ein viel größerer Übeltäter gewesen zu sein, als er es tatsächlich war, ein wichtiger Typ, der in der Schule mit Drogen gedealt, Leute abgezogenund verprügelt hat und mit Gangstern rumhing. Es hört sich an, als würde man die Sun lesen. Man weiß, dass die Tatsachen wahrscheinlich stimmen, aber so, wie sie zusammengebastelt wurden, klingt es irgendwie seltsam.
Er geht mit mir alle Aussagen durch, die ich bereits gemacht habe. Arrons kleine Umschläge in der Schule und was ich davon gehalten habe. Wie wir Jukes und Mikey vor dem Laden getroffen haben. Wie mich Arron gefragt hat, ob ich bei dem Überfall im Park mitmache. Wie ich abgelehnt habe, dann aber doch in den Park gerannt bin und alles beobachtet habe.
Und was ich gesehen habe. Wie Arron und Rio miteinander gekämpft haben. Wie Jukes und Mikey gedrängelt und geschubst haben. Wie sie Rio ins Messer gestoßen haben. Und wie sie dann weggerannt sind. Und wie ich weggerannt bin, um einen Krankenwagen zu holen.
Dann kommen wir zu der kniffligen Stelle. Der Stelle, als ich Arron dazu gebracht habe, aus dem Park zu fliehen. Der Anwalt fragt ganz neutral: »Kannst du mir sagen, Tom, was passiert ist, als du in den Park zurückgekommen bist?«
»Sprich deutlich, schau in die Kamera und bleib ruhig«, hat mir Patrick im Auto noch geraten. Ich versuche es.
»Ich habe gesehen, dass der Junge … Rio … tot war. Ich wusste, dass die Sanitäter bestimmt denken, Arron hätte es getan. Ich wollte nicht, dass sie … dass sie das denken. Also hab ich mein Messer rausgezogen und ihm gedroht. Ich habe ihn damit verletzt … hab ihm einen Schnitt zugefügt … glaube ich. Dann sind wir zu ihm nach Hause gerannt.«
»Hast du das der Polizei bei deiner ursprünglichen Aussage mitgeteilt?«
»Nein. Ich hatte zu viel Angst, und ich dachte, dass sie mir dann … das andere auch nicht glauben. Ich habe es ihnen erst später gesagt.«
»Kannst du mir sagen, wieso du später bei der Polizei die Wahrheit gesagt hast?«
»Hmm … also … ich habe eine Mail geschickt. An eine Freundin. Ich habe mich mies gefühlt, weil ich der Polizei nicht alles gesagt hatte. Also habe ich ihr geschrieben, dass ich gelogen hätte … aber nur, was das angeht, sonst nicht … und sie hat es der Polizei erzählt. Also habe ich der Polizei gesagt, wie es gewesen ist.«
»Stellen wir das einmal klar, Tom. Du hast die Polizei belogen, aber nur, was diese Einzelheit angeht?«
»Ja.«
»Kennst du den Unterschied zwischen der Wahrheit und einer Lüge?«
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Sache ganz so einfach ist. Die Wahrheit ist komplizierter, als er es darstellt. Aber ich nicke und sage: »Ja, klar.« Was hätte ich sonst sagen sollen?
Ich sehe die Geschworenen, direkt hinter ihm. Zwölf ausdruckslose Gesichter. Sie geben nichts von sich preis. Ich sehe die Richterin, eine Blondine mit dicken Perlenohrringen. Der Staatsanwalt bedankt sich bei mir und setzt sich. Die Richterin fragt mich, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich nicke. Sie ruft Arrons Anwalt auf. Ich halte den Atem an. Und weiter geht’s.
Arrons Anwalt ist ein dünner, sehniger Typ mit einer glänzenden kahlen Stelle auf dem Kopf, die er, da bin ich mir sicher, lieber mit seiner blöden Perücke verdecken würde. »Guten Morgen, Tom«, sagt er betont freundlich. Ich lasse mich nicht davon täuschen.
»Würdest du Arron Mackenzie als deinen besten Freund bezeichnen?«, will er wissen.
»Na ja … schon. Damals ist er mein bester Freund gewesen. Jetzt nicht mehr.«
»Meinst du nicht auch, dass Freunde sich immer die Wahrheit sagen sollten?«
»Ja … äh, klar«, antworte ich. Ich weiß nicht, worauf er hinauswill. Vielleicht geht es darum, dass Arron seine Drogengeschäfte in der Schule immer vor mir geheim gehalten hat.
»Womit
Weitere Kostenlose Bücher