Die letzte Aussage
Aufgabe übernommen, neben mir im Polizeiauto von Birmingham nach London zu fahren. Sie haben uns um fünf Uhr morgens abgeholt, deshalb hat er bei uns in der Wohnung übernachten müssen. Gran hat ihm ihr Zimmer überlassen. Eine ziemlich seltsame Erfahrung für alle Beteiligten. Das kommt jetzt wahrscheinlich direkt als die größte Untertreibung aller Zeiten ins Guinnessbuch der Rekorde. Und jetzt marschiert er mit mir durch die holzvertäfelten Flure und erklärt mir, was es mit dem Engel auf dem Dach auf sich hat.
»Wir sind hier im Old Bailey«, sagt er, »das ist der Oberste Strafgerichtshof Großbritanniens. Die Statue stellt Justitia dar, die Göttin der Gerechtigkeit. Sie hält das Schwert der Bestrafung und die Waagschalen der Unparteilichkeitin der Hand. Traditionellerweise wird sie mit Augenbinde dargestellt, hier jedoch nicht. Lernt ihr heutzutage in der Schule überhaupt nichts mehr?«
Der Old Bailey. Wie konnte mir bloß entgehen, dass wir hierher fahren? Von diesem Gericht wird immer in den Fernsehnachrichten erzählt. Hier werden die echt wichtigen Fälle verhandelt. Und mein Fall ist ein echt wichtiger Fall. Mann! Es kommt mir vor, als hätte mir die Engelsstatue ihr Schwert direkt in den Bauch gestoßen.
Eine Gerichtsdienerin, eine Frau mit grauen Haaren, zeigt uns, wo wir hinmüssen. Sie führt uns in einen kleinen, hell erleuchteten Raum und bringt mich zu einem Stuhl mit Tisch. »Hier nimmst du Platz, wenn du deine Aussage machst«, sagt sie. Direkt neben dem Tisch sind eine Videokamera und ein Fernseher aufgebaut. Nichts Besonderes, kein großer Plasmabildschirm oder so was. Sie stellt ein Glas und einen Krug Wasser auf den Tisch. »Es dauert bestimmt nicht sehr lange«, sagt sie. »Du bekommst Bescheid, wenn sie so weit sind und du an der Reihe bist.«
Patrick wünscht mir Glück und sagt, dass er im Zuschauerbereich sitzt. »Kann sein, dass ich dich nicht sehe, aber ich höre dich bestimmt«, sagt er. Als er weg ist, setze ich mich an den Tisch und versuche, mich darauf zu konzentrieren, was ich sagen will, aber ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren. Nur wenn ich an Claire denke, kann ich einen halbwegs klaren Gedanken fassen.
»Tom«, unterbricht mich die Frau, was wahrscheinlich gar nicht schlecht ist.
»Ich heiße Ty, nicht Tom«, erwidere ich.
»Vor Gericht werden sie dich Tom nennen. Zum Schutz deiner Identität. Außerdem sind im Saal Sichtschutzwände aufgestellt, damit nur die Geschworenen und die Anwälte dich bei deiner Aussage sehen können. Der Richter und die Beisitzer werden auch ihre Perücken abnehmen, um dich nicht unnötig einzuschüchtern. Ist dir das bereits mitgeteilt worden?«
Allerdings, und damals hat mich diese Information mehr als nur ein bisschen irritiert. Warum behandeln sie mich wie ein Kleinkind? Denken die wirklich, ich lasse mich von ihren blöden Verkleidungen erschrecken? Halten sie mich nach allem, was ich erlebt habe, für einen solchen Angsthasen? Pff!
Aber als mir DI Morris das alles erklärt hat – er ist vor ein paar Wochen zu mir nach Birmingham gekommen –, hat er mir zugleich auch erklärt, dass die Verteidiger mich und meine Aussage angreifen würden, damit ich wie ein Lügner dastehe. »Jemand, der fantasiert, hat eine lebhafte Vorstellungskraft und nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau.« Er muss mir nicht erzählen, dass ich ihnen ihre Argumente auf dem Silbertablett serviert habe. Danach habe ich die meisten Einzelheiten hinsichtlich der Perücken und Namen einfach vergessen.
Plötzlich geht der Bildschirm an, und ich sehe, wie die Beisitzer ihre Perücken abnehmen und in kleine Beutel stecken, und mein Mund wird trocken, mein Magen schlägt regelrecht Purzelbäume. Ich gieße mir ein Glas Wasser ein.
»Es geht los«, sagt die Frau. Sie fragt mich nach meiner Konfession und will wissen, ob ich auf die Bibel schwören oder ohne sie an Eides statt bekräftigen will, dass ich die Wahrheit sage. Ich weiß nicht genau, was »an Eides statt bekräftigen« bedeutet, deshalb sage ich, dass ich die Bibel nehme. Dabei halte ich es für eine dumme, altmodische Methode, die Leute dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. Heutzutage glaubt doch kaum mehr jemand an Gott. Jedenfalls nicht hundertprozentig. Sie sollten sich was Neues ausdenken. Ansonsten können sie nur noch alten Leuten, Priestern oder Muslimen richtig trauen. Sie brauchen andere Methoden. So etwas wie die Lügendetektoren, die man aus dem Kino kennt.
Als ich die Worte
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